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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Der Herakles der sage.
des sinnes habe, weder blasphemische frivolität in der Amphitryonsage
zu finden, noch die romantisch krankhafte gefühlsverwirrung hineinzu-
tragen. dann erkennt man zweierlei. erstens, dass es zu unerträglichen
consequenzen führt, wenn ein solcher irdischer vater mehr ist als eine
füllfigur. Amphitryon ist mehr, und deshalb kann er nicht ursprünglich
vater des Herakles sein, hat vielmehr die verquickung zweier ursprünglich
selbständiger sagen den keim zu diesen unzuträglichkeiten gelegt. zweitens
aber muss ein grosser, aber die consequenzen auch um den preis der
zerstörung des mythos ziehender dichter das Amphitryonmotiv ernst be-
handelt haben, ehe die travestie, wie sie bei Plautus vorliegt, sich daran
machen konnte. dieser dichter ist nachweislich Euripides gewesen, dessen
Alkmene den gatten so weit gehen liess, die ehebrecherin auf den scheiter-
haufen zu werfen, dessen feuer die erscheinung des gottes in sturm und
hagel löschte. von der sittlichen behandlung des problems können wir
aber nichts mehr erkennen 54). aber Euripides zog auch hier nur hervor,
was in der sage lag, und zwar muss schon vor der knappen darstellung
in den hesiodischen Eoeen eine lebhafte dichterische behandlung sowol
des Taphierzuges wie der erzeugung des Herakles und auch der ersten
tat, in welcher sich das göttliche blut bewährte, der schlangenwürgung,
bestanden haben: eine boeotische dichtung 55). und da diese in ihrem
inhalte zwiespältige motive enthält, so ist eine benutzung argolischer noch
älterer dichtung unabweisbar. dass Zeus zu Alkmene in ihres gatten

54) Der inhalt der euripideischen Alkmene ist von R. Engelmann (zuletzt Beitr.
zu Eur. Berlin 1882) erkannt. wenn jüngst jemand behauptet hat, der vers des
Plautus (Rud. 86) non ventus fuit, verum Alcumena Euripidis bedeute, personam
aut fabulam turbulentam dissolutamque esse
, so ist Plautus an dieser windbeutelei
unschuldig: der fährt fort ita omnis de tecto deturbavit tegulas. das unwetter
ist selbst im plautinischen Amphitruo noch beibehalten.
55) Über den Taphierzug zu v. 60, 1078, wo gezeigt ist, dass die Eoee (Aspis
anfang) nur einen auszug der reichen sage liefert. Pherekydes (schol. l 265) ist ihr
freilich allein gefolgt. aber von der schlangenwürgung wusste er zu sagen, dass
Amphitryon das ungeheuer geschickt hätte, zu erkennen, welcher der zwillinge aus
götterblut wäre (schol. Pind. N. 1, 65). die gewöhnliche fassung dieser sage reprae-
sentirt für uns am reinsten Pindar N. 1, allein von ihm weichen die andern zeugen
nicht ab, so dass man in ihm den urheber hat sehen wollen. und thebanisch ist
die sage freilich, wie die einführung des Teiresias zeigt; prägen doch auch die
Thebaner den schlangenwürgenden Herakles im 5. jahrhundert auf ihre münzen.
aber das pindarische gedicht hat zwar dem Theokrit und Philostratos vorgelegen: dass
es die vulgatsage beherrscht hätte, ist minder glaublich, als dass im 5. jahrhundert
noch andere ausser ihm ein boeotisches epos benutzt hätten, dem eben auch der
Taphierzug angehört haben wird.

Der Herakles der sage.
des sinnes habe, weder blasphemische frivolität in der Amphitryonsage
zu finden, noch die romantisch krankhafte gefühlsverwirrung hineinzu-
tragen. dann erkennt man zweierlei. erstens, daſs es zu unerträglichen
consequenzen führt, wenn ein solcher irdischer vater mehr ist als eine
füllfigur. Amphitryon ist mehr, und deshalb kann er nicht ursprünglich
vater des Herakles sein, hat vielmehr die verquickung zweier ursprünglich
selbständiger sagen den keim zu diesen unzuträglichkeiten gelegt. zweitens
aber muſs ein groſser, aber die consequenzen auch um den preis der
zerstörung des mythos ziehender dichter das Amphitryonmotiv ernst be-
handelt haben, ehe die travestie, wie sie bei Plautus vorliegt, sich daran
machen konnte. dieser dichter ist nachweislich Euripides gewesen, dessen
Alkmene den gatten so weit gehen lieſs, die ehebrecherin auf den scheiter-
haufen zu werfen, dessen feuer die erscheinung des gottes in sturm und
hagel löschte. von der sittlichen behandlung des problems können wir
aber nichts mehr erkennen 54). aber Euripides zog auch hier nur hervor,
was in der sage lag, und zwar muſs schon vor der knappen darstellung
in den hesiodischen Eoeen eine lebhafte dichterische behandlung sowol
des Taphierzuges wie der erzeugung des Herakles und auch der ersten
tat, in welcher sich das göttliche blut bewährte, der schlangenwürgung,
bestanden haben: eine boeotische dichtung 55). und da diese in ihrem
inhalte zwiespältige motive enthält, so ist eine benutzung argolischer noch
älterer dichtung unabweisbar. daſs Zeus zu Alkmene in ihres gatten

54) Der inhalt der euripideischen Alkmene ist von R. Engelmann (zuletzt Beitr.
zu Eur. Berlin 1882) erkannt. wenn jüngst jemand behauptet hat, der vers des
Plautus (Rud. 86) non ventus fuit, verum Alcumena Euripidis bedeute, personam
aut fabulam turbulentam dissolutamque esse
, so ist Plautus an dieser windbeutelei
unschuldig: der fährt fort ita omnis de tecto deturbavit tegulas. das unwetter
ist selbst im plautinischen Amphitruo noch beibehalten.
55) Über den Taphierzug zu v. 60, 1078, wo gezeigt ist, daſs die Eoee (Aspis
anfang) nur einen auszug der reichen sage liefert. Pherekydes (schol. λ 265) ist ihr
freilich allein gefolgt. aber von der schlangenwürgung wuſste er zu sagen, daſs
Amphitryon das ungeheuer geschickt hätte, zu erkennen, welcher der zwillinge aus
götterblut wäre (schol. Pind. N. 1, 65). die gewöhnliche fassung dieser sage reprae-
sentirt für uns am reinsten Pindar N. 1, allein von ihm weichen die andern zeugen
nicht ab, so daſs man in ihm den urheber hat sehen wollen. und thebanisch ist
die sage freilich, wie die einführung des Teiresias zeigt; prägen doch auch die
Thebaner den schlangenwürgenden Herakles im 5. jahrhundert auf ihre münzen.
aber das pindarische gedicht hat zwar dem Theokrit und Philostratos vorgelegen: daſs
es die vulgatsage beherrscht hätte, ist minder glaublich, als daſs im 5. jahrhundert
noch andere auſser ihm ein boeotisches epos benutzt hätten, dem eben auch der
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[298/0318] Der Herakles der sage. des sinnes habe, weder blasphemische frivolität in der Amphitryonsage zu finden, noch die romantisch krankhafte gefühlsverwirrung hineinzu- tragen. dann erkennt man zweierlei. erstens, daſs es zu unerträglichen consequenzen führt, wenn ein solcher irdischer vater mehr ist als eine füllfigur. Amphitryon ist mehr, und deshalb kann er nicht ursprünglich vater des Herakles sein, hat vielmehr die verquickung zweier ursprünglich selbständiger sagen den keim zu diesen unzuträglichkeiten gelegt. zweitens aber muſs ein groſser, aber die consequenzen auch um den preis der zerstörung des mythos ziehender dichter das Amphitryonmotiv ernst be- handelt haben, ehe die travestie, wie sie bei Plautus vorliegt, sich daran machen konnte. dieser dichter ist nachweislich Euripides gewesen, dessen Alkmene den gatten so weit gehen lieſs, die ehebrecherin auf den scheiter- haufen zu werfen, dessen feuer die erscheinung des gottes in sturm und hagel löschte. von der sittlichen behandlung des problems können wir aber nichts mehr erkennen 54). aber Euripides zog auch hier nur hervor, was in der sage lag, und zwar muſs schon vor der knappen darstellung in den hesiodischen Eoeen eine lebhafte dichterische behandlung sowol des Taphierzuges wie der erzeugung des Herakles und auch der ersten tat, in welcher sich das göttliche blut bewährte, der schlangenwürgung, bestanden haben: eine boeotische dichtung 55). und da diese in ihrem inhalte zwiespältige motive enthält, so ist eine benutzung argolischer noch älterer dichtung unabweisbar. daſs Zeus zu Alkmene in ihres gatten 54) Der inhalt der euripideischen Alkmene ist von R. Engelmann (zuletzt Beitr. zu Eur. Berlin 1882) erkannt. wenn jüngst jemand behauptet hat, der vers des Plautus (Rud. 86) non ventus fuit, verum Alcumena Euripidis bedeute, personam aut fabulam turbulentam dissolutamque esse, so ist Plautus an dieser windbeutelei unschuldig: der fährt fort ita omnis de tecto deturbavit tegulas. das unwetter ist selbst im plautinischen Amphitruo noch beibehalten. 55) Über den Taphierzug zu v. 60, 1078, wo gezeigt ist, daſs die Eoee (Aspis anfang) nur einen auszug der reichen sage liefert. Pherekydes (schol. λ 265) ist ihr freilich allein gefolgt. aber von der schlangenwürgung wuſste er zu sagen, daſs Amphitryon das ungeheuer geschickt hätte, zu erkennen, welcher der zwillinge aus götterblut wäre (schol. Pind. N. 1, 65). die gewöhnliche fassung dieser sage reprae- sentirt für uns am reinsten Pindar N. 1, allein von ihm weichen die andern zeugen nicht ab, so daſs man in ihm den urheber hat sehen wollen. und thebanisch ist die sage freilich, wie die einführung des Teiresias zeigt; prägen doch auch die Thebaner den schlangenwürgenden Herakles im 5. jahrhundert auf ihre münzen. aber das pindarische gedicht hat zwar dem Theokrit und Philostratos vorgelegen: daſs es die vulgatsage beherrscht hätte, ist minder glaublich, als daſs im 5. jahrhundert noch andere auſser ihm ein boeotisches epos benutzt hätten, dem eben auch der Taphierzug angehört haben wird.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 298. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/318>, abgerufen am 28.03.2024.