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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Der Herakles der sage.
grab des Herakles hat es nie und nirgend gegeben 43). so wenig das ist,
für die religion ist es ganz genug. auch dass es so farblos ist, verschmerzt
man vielleicht. aber selbst so viel begreift ja erst der, welcher sich in
dem labyrinthe der späteren sagen zurecht gefunden hat. denn die ge-
schichtliche entwickelung und die ihr folgende darstellung geht einen
andern, und zwar den entgegengesetzten, weg als die forschung und das
lernen. dieses sieht sich zunächst der ausgebildeten sage gegenüber und
arbeitet sich von ihr schritt für schritt zu den einfacheren urformen
empor, welche für uns der ausgangspunkt waren.

Die sage auf
helle-
nischem
boden.

Auch die nächsten schritte gehen noch auf unsicherem boden durch
dunkele jahrhunderte. aber die geschichtliche darstellung hat gezeigt,
wo die echte Heraklessage zu suchen ist, und mit der beseitigung der
lediglich geschichte reflectirenden sagenmasse ist das dickicht gelichtet.
in Argos, in Boeotien, in den landschaften um den Oeta hat sich nach-
weislich die Heraklessage zu einer bedeutenderen besonderen gestalt ver-
dichtet, hat sie so zu sagen eine greifbare körperlichkeit erhalten. für
gewisse strecken des irdischen lebens, wie es die spätere zeit seit dem
5. jahrhundert erzählt hat, sind diese verschiedenen sagenkreise oder
kreisabschnitte massgebend geblieben. der oetäische für den letzten teil
des lebens, der boeotische für die kindheit und jugendgeschichte, der
argolische für die haupttaten, den dodekathlos. die oetäischen sagen mögen
zunächst bei seite gestellt werden; sie sind zum teil in der bearbeitung von
nicht dorischen Homeriden, die also die erhabenheit des gegenstandes
nicht voll empfanden, aufgezeichnet worden. auch die boeotischen sagen
sind in der importirten epischen weise zur darstellung gebracht worden,
zum teil mit grossem erfolge, in den hesiodischen gedichten, allein niemals
in einem grösseren zusammenhange, und niemals ohne die argolische sage
bereits vorauszusetzen. die nahe beziehung Boeotiens zu Chalkis und
seinem culturkreis, der den westen beherrscht, und die fruchtbarkeit
dieses kreises an dichtern der chorischen lyrik im sechsten jahrhundert
hat sehr vielen der altargolischen erzählungen eine neue farbe gegeben,
welche dann die herrschende geblieben ist: aber auch so weist alles auf
den argolischen ursprung zurück. die argolische sage allein ist in sich
ein organisches ganzes, sie bildet das fundament der späteren Herakles-
sage, aus ihr wesentlich ist das genommen, was sich als ursage dar-
stellen liess. hier gelingt es ein grossartiges altdorisches Heraklesgedicht

43) Wer von den wechselwirkungen zwischen cultus und sage, d. h. von der
wirklichen religion etwas versteht, kann aus dieser einen tatsache allein schon ab-
leiten, dass Herakles weder je ein mensch noch je ein blosser heros war.

Der Herakles der sage.
grab des Herakles hat es nie und nirgend gegeben 43). so wenig das ist,
für die religion ist es ganz genug. auch daſs es so farblos ist, verschmerzt
man vielleicht. aber selbst so viel begreift ja erst der, welcher sich in
dem labyrinthe der späteren sagen zurecht gefunden hat. denn die ge-
schichtliche entwickelung und die ihr folgende darstellung geht einen
andern, und zwar den entgegengesetzten, weg als die forschung und das
lernen. dieses sieht sich zunächst der ausgebildeten sage gegenüber und
arbeitet sich von ihr schritt für schritt zu den einfacheren urformen
empor, welche für uns der ausgangspunkt waren.

Die sage auf
helle-
nischem
boden.

Auch die nächsten schritte gehen noch auf unsicherem boden durch
dunkele jahrhunderte. aber die geschichtliche darstellung hat gezeigt,
wo die echte Heraklessage zu suchen ist, und mit der beseitigung der
lediglich geschichte reflectirenden sagenmasse ist das dickicht gelichtet.
in Argos, in Boeotien, in den landschaften um den Oeta hat sich nach-
weislich die Heraklessage zu einer bedeutenderen besonderen gestalt ver-
dichtet, hat sie so zu sagen eine greifbare körperlichkeit erhalten. für
gewisse strecken des irdischen lebens, wie es die spätere zeit seit dem
5. jahrhundert erzählt hat, sind diese verschiedenen sagenkreise oder
kreisabschnitte maſsgebend geblieben. der oetäische für den letzten teil
des lebens, der boeotische für die kindheit und jugendgeschichte, der
argolische für die haupttaten, den dodekathlos. die oetäischen sagen mögen
zunächst bei seite gestellt werden; sie sind zum teil in der bearbeitung von
nicht dorischen Homeriden, die also die erhabenheit des gegenstandes
nicht voll empfanden, aufgezeichnet worden. auch die boeotischen sagen
sind in der importirten epischen weise zur darstellung gebracht worden,
zum teil mit groſsem erfolge, in den hesiodischen gedichten, allein niemals
in einem gröſseren zusammenhange, und niemals ohne die argolische sage
bereits vorauszusetzen. die nahe beziehung Boeotiens zu Chalkis und
seinem culturkreis, der den westen beherrscht, und die fruchtbarkeit
dieses kreises an dichtern der chorischen lyrik im sechsten jahrhundert
hat sehr vielen der altargolischen erzählungen eine neue farbe gegeben,
welche dann die herrschende geblieben ist: aber auch so weist alles auf
den argolischen ursprung zurück. die argolische sage allein ist in sich
ein organisches ganzes, sie bildet das fundament der späteren Herakles-
sage, aus ihr wesentlich ist das genommen, was sich als ursage dar-
stellen lieſs. hier gelingt es ein groſsartiges altdorisches Heraklesgedicht

43) Wer von den wechselwirkungen zwischen cultus und sage, d. h. von der
wirklichen religion etwas versteht, kann aus dieser einen tatsache allein schon ab-
leiten, daſs Herakles weder je ein mensch noch je ein bloſser heros war.
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[292/0312] Der Herakles der sage. grab des Herakles hat es nie und nirgend gegeben 43). so wenig das ist, für die religion ist es ganz genug. auch daſs es so farblos ist, verschmerzt man vielleicht. aber selbst so viel begreift ja erst der, welcher sich in dem labyrinthe der späteren sagen zurecht gefunden hat. denn die ge- schichtliche entwickelung und die ihr folgende darstellung geht einen andern, und zwar den entgegengesetzten, weg als die forschung und das lernen. dieses sieht sich zunächst der ausgebildeten sage gegenüber und arbeitet sich von ihr schritt für schritt zu den einfacheren urformen empor, welche für uns der ausgangspunkt waren. Auch die nächsten schritte gehen noch auf unsicherem boden durch dunkele jahrhunderte. aber die geschichtliche darstellung hat gezeigt, wo die echte Heraklessage zu suchen ist, und mit der beseitigung der lediglich geschichte reflectirenden sagenmasse ist das dickicht gelichtet. in Argos, in Boeotien, in den landschaften um den Oeta hat sich nach- weislich die Heraklessage zu einer bedeutenderen besonderen gestalt ver- dichtet, hat sie so zu sagen eine greifbare körperlichkeit erhalten. für gewisse strecken des irdischen lebens, wie es die spätere zeit seit dem 5. jahrhundert erzählt hat, sind diese verschiedenen sagenkreise oder kreisabschnitte maſsgebend geblieben. der oetäische für den letzten teil des lebens, der boeotische für die kindheit und jugendgeschichte, der argolische für die haupttaten, den dodekathlos. die oetäischen sagen mögen zunächst bei seite gestellt werden; sie sind zum teil in der bearbeitung von nicht dorischen Homeriden, die also die erhabenheit des gegenstandes nicht voll empfanden, aufgezeichnet worden. auch die boeotischen sagen sind in der importirten epischen weise zur darstellung gebracht worden, zum teil mit groſsem erfolge, in den hesiodischen gedichten, allein niemals in einem gröſseren zusammenhange, und niemals ohne die argolische sage bereits vorauszusetzen. die nahe beziehung Boeotiens zu Chalkis und seinem culturkreis, der den westen beherrscht, und die fruchtbarkeit dieses kreises an dichtern der chorischen lyrik im sechsten jahrhundert hat sehr vielen der altargolischen erzählungen eine neue farbe gegeben, welche dann die herrschende geblieben ist: aber auch so weist alles auf den argolischen ursprung zurück. die argolische sage allein ist in sich ein organisches ganzes, sie bildet das fundament der späteren Herakles- sage, aus ihr wesentlich ist das genommen, was sich als ursage dar- stellen lieſs. hier gelingt es ein groſsartiges altdorisches Heraklesgedicht 43) Wer von den wechselwirkungen zwischen cultus und sage, d. h. von der wirklichen religion etwas versteht, kann aus dieser einen tatsache allein schon ab- leiten, daſs Herakles weder je ein mensch noch je ein bloſser heros war.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 292. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/312>, abgerufen am 25.04.2024.