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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Lebensführung.
geschichtler wandeln wollte. so muss man sich bescheiden. schliesslich
würde unsere minder aristokratische anschauung die gemüsehändlerin
weder selbst als bescholten noch als einen schimpf für den sohn ansehen.
die liebevolle weise, mit der der sohn sehr häufig die gefühle der mutter
zu den kindern und die pietät gerade des erwachsenen sohnes zur mutter
geschildert und besprochen hat, legt es nahe, von Kleito nicht gering
zu denken.

Seine vermögensverhältnisse haben dem Euripides von jugend aufLebens-
führung.

gesttattet ganz den Musen zu leben. im 4. jahrh. war die dramatische
poesie dazu angetan, ihren dichter reich zu machen 14); damals wurden
die dramen aber auch aller orten gegeben. der attische staat zahlte
sehr ansehnliche preise 15); aber sie waren sehr stark abgestuft, und
Euripides hat im leben nur viermal den ersten erhalten. somit hat er
von den gaben der Musen nicht leben können, und jedenfalls haben
sich seine söhne eine lebensstellung selbst erwerben müssen. er hat als
ein echter gelehrter nur einen schatz hinterlassen, den die motten fressen,
seime bibliothek. freilich ist in anschlag zu bringen, dass sein greisen-
alter mit dem unheil zusammenfällt, das nicht nur den staat Athen,
sondern jeden einzelnen bürger arm machte. liturgien hatte jeder
bürger zu leisten, der nur einigen besitz hatte, mochte er auch so fern
dem staatsleben sich halten, wie Platon Isokrates Euripides, von denen
allem es feststeht. und zwar hat Euripides als bejahrter mann sogar vor
gericht gestanden und seine sache geführt, als ihm ein gewisser Hygiainon
eine liturgie zuschob (antedoken 16)). auch muss man sich die weltflucht
bei einem sohne der sophistenzeit nicht zu arg denken: wer so das
menschliche getriebe zu schildern weiss, hat es selbst gesehen, wer das
menschenherz so kennt, menschen beobachtet. offenbar durch die zufällige
beachtung eines beschriebenen steines hat irgend ein gelehrter des alter-
tums entdeckt, dass Euripides von Magnesia mit atelie und proxenie
bedacht worden ist. welche der beiden Magnesia, die beide nicht zum
attischen, sondern zum persischen reiche gehörten, gemeint ist, lässt

14) Platon Laches 183d Staat VIII 568c.
15) Wir kennen die preise der tragiker und die der komiker (Ar. Frö. 367 mit
scholl.) nicht, wol aber einige der bei den Panathenaeen gezahlten (CIA II 965). für
die kitharoden war der erste ein goldener olivenkranz von 1000 dr. und 500 dr.
silber, für den zweiten 1200 dr., den dritten 600, den vierten 400, den fünften 300.
aber auch das verhältnis dieser preise zu den tragischen lässt sich nicht abschätzen.
16) Aristoteles Rhet. III 15, wol aus mündlicher überlieferung. es ist die
ältestte erwähnung eines falles von antidosis, da der zweite Hippolytos vorausgesetzt
wird, nach 428. der name Ugiainon ist genugsam belegt.

Lebensführung.
geschichtler wandeln wollte. so muſs man sich bescheiden. schlieſslich
würde unsere minder aristokratische anschauung die gemüsehändlerin
weder selbst als bescholten noch als einen schimpf für den sohn ansehen.
die liebevolle weise, mit der der sohn sehr häufig die gefühle der mutter
zu den kindern und die pietät gerade des erwachsenen sohnes zur mutter
geschildert und besprochen hat, legt es nahe, von Kleito nicht gering
zu denken.

Seine vermögensverhältnisse haben dem Euripides von jugend aufLebens-
führung.

gesttattet ganz den Musen zu leben. im 4. jahrh. war die dramatische
poesie dazu angetan, ihren dichter reich zu machen 14); damals wurden
die dramen aber auch aller orten gegeben. der attische staat zahlte
sehr ansehnliche preise 15); aber sie waren sehr stark abgestuft, und
Euripides hat im leben nur viermal den ersten erhalten. somit hat er
von den gaben der Musen nicht leben können, und jedenfalls haben
sich seine söhne eine lebensstellung selbst erwerben müssen. er hat als
ein echter gelehrter nur einen schatz hinterlassen, den die motten fressen,
seime bibliothek. freilich ist in anschlag zu bringen, daſs sein greisen-
alter mit dem unheil zusammenfällt, das nicht nur den staat Athen,
sondern jeden einzelnen bürger arm machte. liturgien hatte jeder
bürger zu leisten, der nur einigen besitz hatte, mochte er auch so fern
dem staatsleben sich halten, wie Platon Isokrates Euripides, von denen
allem es feststeht. und zwar hat Euripides als bejahrter mann sogar vor
gericht gestanden und seine sache geführt, als ihm ein gewisser Hygiainon
eine liturgie zuschob (ἀντέδωκεν 16)). auch muſs man sich die weltflucht
bei einem sohne der sophistenzeit nicht zu arg denken: wer so das
menschliche getriebe zu schildern weiſs, hat es selbst gesehen, wer das
menschenherz so kennt, menschen beobachtet. offenbar durch die zufällige
beachtung eines beschriebenen steines hat irgend ein gelehrter des alter-
tums entdeckt, daſs Euripides von Magnesia mit atelie und proxenie
bedacht worden ist. welche der beiden Magnesia, die beide nicht zum
attischen, sondern zum persischen reiche gehörten, gemeint ist, läſst

14) Platon Laches 183d Staat VIII 568c.
15) Wir kennen die preise der tragiker und die der komiker (Ar. Frö. 367 mit
scholl.) nicht, wol aber einige der bei den Panathenaeen gezahlten (CIA II 965). für
die kitharoden war der erste ein goldener olivenkranz von 1000 dr. und 500 dr.
silber, für den zweiten 1200 dr., den dritten 600, den vierten 400, den fünften 300.
aber auch das verhältnis dieser preise zu den tragischen läſst sich nicht abschätzen.
16) Aristoteles Rhet. III 15, wol aus mündlicher überlieferung. es ist die
ältestte erwähnung eines falles von ἀντίδοσις, da der zweite Hippolytos vorausgesetzt
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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 11. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/31>, abgerufen am 28.03.2024.