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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Inhalt der ältesten sage.
glaubens wird von keiner einzelnen manifestation seines geistes erreicht.
man ermisst den unversöhnlichen gegensatz der stämme am besten, wenn
man den Dorer Herakles zwischen den helden der Ilias oder den göttern
des Olympos erblickt. das Ionertum, elastisch aber nervös, feurig aber
scheu, klug und seelenvoll, aber eitel und trotzig: ein edles ross neben
dem dorischen stier, dessen wuchtiger nacken jedes joch zerbrach, dessen
auge nur dem verzärtelten stadtmenschen blöde oder rasend blickt, weil
er treuherzigkeit und stolz nicht versteht. auch der stier ist ein edles
tier, dauerbar und unwiderstehlich und besonders gern zeigen sich grosse
götter, Iahwe und Dionysos z. b., in seiner gestalt. aber stier und ross
soll man nicht zusammenspannen. das war das verhängnis des Griechen-
volks. Ioner und Dorer konnten keinen staat bilden. und doch, zu
einem haben sie mitgewirkt, zu der höchsten, der attischen cultur. und
deren edelste blüte, die sokratische philosophie hat eine ihrer wurzeln
auch in dem Heraklesglauben: auch sie bekennt in stolzer zuversicht,
dass der mensch gut ist, dass er kann was er will, und dass er wirken
soll im dienste des allgemeinen sein leben lang, ein leben, das in seinen
mühen und seiner arbeit zugleich seinen lohn hat. und an dem dufte
dieser blüte stärkt auch heute noch der culturmüde mensch seinen mut,
in der entgotteten welt zu leben und zu wirken.

Diese sätze mögen den vorwurf verdienen, das versprechen abstracter
behandlung schlecht gehalten zu haben, und sie werden dem schicksale
nicht entgehen, verspottet und verlacht zu werden. diesem schicksal
muss der den mut haben die stirn zu bieten, der den inhalt einer reli-
giösen idee darlegen will. denn das ist schlechterdings nicht möglich,
wenn man nicht empfindung hat und empfindung wecken will. vom
heiligen soll man nur aus dem herzen zum herzen reden. wer nicht
empfindet, dem muss solches reden torheit scheinen, und dem gemäss
wird er urteilen und verurteilen. weit schmerzlicher als fremder hohn ist
das eigene gefühl der unzulänglichkeit gegenüber dem schlichten aber
lebendigen bilde, das der alte glaube sich geschaffen hat, ohne irgend
etwas von den moralischen und metaphysischen abstractionen zu ver-
stehen. und gienge es nur an, dieses älteste bild in einigermassen festen
strichen zu umreissen und wenigstens die grundfarben herzustellen, gern
würde man sich darauf beschränken, es allein wirken zu lassen; es be-
dürfte dann keiner langen reden für die, welche poesie zu empfinden
im stande sind, andere aber überzeugt man doch niemals. allein nur
einzelne züge gelingt es der ursage zuzuweisen, weil sie zugleich mit der
religiösen conception gegeben sind, oder aber als stamm aus den vielen

v. Wilamowitz I. 19

Inhalt der ältesten sage.
glaubens wird von keiner einzelnen manifestation seines geistes erreicht.
man ermiſst den unversöhnlichen gegensatz der stämme am besten, wenn
man den Dorer Herakles zwischen den helden der Ilias oder den göttern
des Olympos erblickt. das Ionertum, elastisch aber nervös, feurig aber
scheu, klug und seelenvoll, aber eitel und trotzig: ein edles roſs neben
dem dorischen stier, dessen wuchtiger nacken jedes joch zerbrach, dessen
auge nur dem verzärtelten stadtmenschen blöde oder rasend blickt, weil
er treuherzigkeit und stolz nicht versteht. auch der stier ist ein edles
tier, dauerbar und unwiderstehlich und besonders gern zeigen sich groſse
götter, Iahwe und Dionysos z. b., in seiner gestalt. aber stier und roſs
soll man nicht zusammenspannen. das war das verhängnis des Griechen-
volks. Ioner und Dorer konnten keinen staat bilden. und doch, zu
einem haben sie mitgewirkt, zu der höchsten, der attischen cultur. und
deren edelste blüte, die sokratische philosophie hat eine ihrer wurzeln
auch in dem Heraklesglauben: auch sie bekennt in stolzer zuversicht,
daſs der mensch gut ist, daſs er kann was er will, und daſs er wirken
soll im dienste des allgemeinen sein leben lang, ein leben, das in seinen
mühen und seiner arbeit zugleich seinen lohn hat. und an dem dufte
dieser blüte stärkt auch heute noch der culturmüde mensch seinen mut,
in der entgotteten welt zu leben und zu wirken.

Diese sätze mögen den vorwurf verdienen, das versprechen abstracter
behandlung schlecht gehalten zu haben, und sie werden dem schicksale
nicht entgehen, verspottet und verlacht zu werden. diesem schicksal
muſs der den mut haben die stirn zu bieten, der den inhalt einer reli-
giösen idee darlegen will. denn das ist schlechterdings nicht möglich,
wenn man nicht empfindung hat und empfindung wecken will. vom
heiligen soll man nur aus dem herzen zum herzen reden. wer nicht
empfindet, dem muſs solches reden torheit scheinen, und dem gemäſs
wird er urteilen und verurteilen. weit schmerzlicher als fremder hohn ist
das eigene gefühl der unzulänglichkeit gegenüber dem schlichten aber
lebendigen bilde, das der alte glaube sich geschaffen hat, ohne irgend
etwas von den moralischen und metaphysischen abstractionen zu ver-
stehen. und gienge es nur an, dieses älteste bild in einigermaſsen festen
strichen zu umreiſsen und wenigstens die grundfarben herzustellen, gern
würde man sich darauf beschränken, es allein wirken zu lassen; es be-
dürfte dann keiner langen reden für die, welche poesie zu empfinden
im stande sind, andere aber überzeugt man doch niemals. allein nur
einzelne züge gelingt es der ursage zuzuweisen, weil sie zugleich mit der
religiösen conception gegeben sind, oder aber als stamm aus den vielen

v. Wilamowitz I. 19
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[289/0309] Inhalt der ältesten sage. glaubens wird von keiner einzelnen manifestation seines geistes erreicht. man ermiſst den unversöhnlichen gegensatz der stämme am besten, wenn man den Dorer Herakles zwischen den helden der Ilias oder den göttern des Olympos erblickt. das Ionertum, elastisch aber nervös, feurig aber scheu, klug und seelenvoll, aber eitel und trotzig: ein edles roſs neben dem dorischen stier, dessen wuchtiger nacken jedes joch zerbrach, dessen auge nur dem verzärtelten stadtmenschen blöde oder rasend blickt, weil er treuherzigkeit und stolz nicht versteht. auch der stier ist ein edles tier, dauerbar und unwiderstehlich und besonders gern zeigen sich groſse götter, Iahwe und Dionysos z. b., in seiner gestalt. aber stier und roſs soll man nicht zusammenspannen. das war das verhängnis des Griechen- volks. Ioner und Dorer konnten keinen staat bilden. und doch, zu einem haben sie mitgewirkt, zu der höchsten, der attischen cultur. und deren edelste blüte, die sokratische philosophie hat eine ihrer wurzeln auch in dem Heraklesglauben: auch sie bekennt in stolzer zuversicht, daſs der mensch gut ist, daſs er kann was er will, und daſs er wirken soll im dienste des allgemeinen sein leben lang, ein leben, das in seinen mühen und seiner arbeit zugleich seinen lohn hat. und an dem dufte dieser blüte stärkt auch heute noch der culturmüde mensch seinen mut, in der entgotteten welt zu leben und zu wirken. Diese sätze mögen den vorwurf verdienen, das versprechen abstracter behandlung schlecht gehalten zu haben, und sie werden dem schicksale nicht entgehen, verspottet und verlacht zu werden. diesem schicksal muſs der den mut haben die stirn zu bieten, der den inhalt einer reli- giösen idee darlegen will. denn das ist schlechterdings nicht möglich, wenn man nicht empfindung hat und empfindung wecken will. vom heiligen soll man nur aus dem herzen zum herzen reden. wer nicht empfindet, dem muſs solches reden torheit scheinen, und dem gemäſs wird er urteilen und verurteilen. weit schmerzlicher als fremder hohn ist das eigene gefühl der unzulänglichkeit gegenüber dem schlichten aber lebendigen bilde, das der alte glaube sich geschaffen hat, ohne irgend etwas von den moralischen und metaphysischen abstractionen zu ver- stehen. und gienge es nur an, dieses älteste bild in einigermaſsen festen strichen zu umreiſsen und wenigstens die grundfarben herzustellen, gern würde man sich darauf beschränken, es allein wirken zu lassen; es be- dürfte dann keiner langen reden für die, welche poesie zu empfinden im stande sind, andere aber überzeugt man doch niemals. allein nur einzelne züge gelingt es der ursage zuzuweisen, weil sie zugleich mit der religiösen conception gegeben sind, oder aber als stamm aus den vielen v. Wilamowitz I. 19

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 289. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/309>, abgerufen am 18.04.2024.