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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Der Herakles der sage.
mensch hat gelebt, was erklärt man damit? doch höchstens das, was dem
dorischen volke in den klüften des Pindos den anstoss gegeben hat, die
Heraklessage zu dichten. diese selbst bleibt ein gebilde der volksphantasie
so oder so. jenes individuum ist wie sein name dahin, verweht, vergessen:
der Herakles der sage hat sein eignes ewiges leben, und nur ihn gilt es
zu erfassen. eine moderne analogie wird das verhältnis aufklären. es
hat ein Dr. Johannes Faust wirklich gelebt, er ist eine geschichtlich sehr
wol controllirbare person: aber für die Faustsage, welche die welt be-
herrscht, ist er ganz gleichgiltig, und er hat ihrem träger weder den
namen noch den inhalt gegeben, beide sind vielmehr über 1000 jahre
älter. der Faust, der den conflict zwischen den zielen, den tele, des
menschlichen strebens verkörpert, glücklich sein, weise sein, gut sein, hat
mit dem dunklen ehrenmann, oder vielmehr dem obscuren lumpen Dr. Faust
nichts zu tun, dessen geburt und tod in den acten aufgestöbert wird.
der Faust von fleisch und bein ist gar nicht der wirkliche Faust: der
ist vielmehr eine conception der volksphantasie, ein sohn derselben mutter,
die in den schluchten des Pindos vom göttlichen geiste den Herakles em-
pfangen hat. wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen.
diese antwort hat in harmonie mit der empfindung seines volkes unser
dichter auf die frage gegeben, welche die Faustsage stellt. das glück
das im genusse liegt, ist des teufels; das glück das in irdischer weisheit
liegt, führt zum teufel: nur die ergebung in die gesetze gottes, der glaube,
kann den menschen in die ewige seligkeit führen: so hatte die alte
antwort gelautet, nicht nur zu Luthers zeiten, sondern schon zu denen
des Clemens Romanus. dieser glaube hat sich in der geschichte vom
Faustus verkörpert, der glaube an die eingeborene schlechtigkeit der
menschennatur, welcher als rückschlag gegen das Hellenentum eben aus
diesem hervorgehen musste, als es dem tode verfallen war. wir haben
jetzt diesen pessimismus überwunden: unsere heiligste überzeugung duldet
nicht mehr, dass Faust der hölle verfällt. doch was wir selbst empfinden,
gehört nicht her: die übermenschliche grösse der Faustsage, ihre sittliche
bedeutung als verkörperung einer ganzen erhabenen weltanschauung
leuchtet ein, ganz abgesehen davon, ob wir diese weltanschauung teilen.
so gewaltig ist diese sage, dass der grösste dichter vergeblich ein langes
leben danach gerungen hat, ihr aus eigner kraft einen neuen abschluss
zu geben, der der veränderten sittlichen überzeugung genug täte: jeder
ehrliche mensch muss zugestehn, dass Goethes Faust inhaltlich in ebenso
kümmerlicher weise durch einen deus ex machina abgeschlossen wird
wie nur irgend ein euripideisches drama. aber die Faustsage ist der

Der Herakles der sage.
mensch hat gelebt, was erklärt man damit? doch höchstens das, was dem
dorischen volke in den klüften des Pindos den anstoſs gegeben hat, die
Heraklessage zu dichten. diese selbst bleibt ein gebilde der volksphantasie
so oder so. jenes individuum ist wie sein name dahin, verweht, vergessen:
der Herakles der sage hat sein eignes ewiges leben, und nur ihn gilt es
zu erfassen. eine moderne analogie wird das verhältnis aufklären. es
hat ein Dr. Johannes Faust wirklich gelebt, er ist eine geschichtlich sehr
wol controllirbare person: aber für die Faustsage, welche die welt be-
herrscht, ist er ganz gleichgiltig, und er hat ihrem träger weder den
namen noch den inhalt gegeben, beide sind vielmehr über 1000 jahre
älter. der Faust, der den conflict zwischen den zielen, den τέλη, des
menschlichen strebens verkörpert, glücklich sein, weise sein, gut sein, hat
mit dem dunklen ehrenmann, oder vielmehr dem obscuren lumpen Dr. Faust
nichts zu tun, dessen geburt und tod in den acten aufgestöbert wird.
der Faust von fleisch und bein ist gar nicht der wirkliche Faust: der
ist vielmehr eine conception der volksphantasie, ein sohn derselben mutter,
die in den schluchten des Pindos vom göttlichen geiste den Herakles em-
pfangen hat. wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen.
diese antwort hat in harmonie mit der empfindung seines volkes unser
dichter auf die frage gegeben, welche die Faustsage stellt. das glück
das im genusse liegt, ist des teufels; das glück das in irdischer weisheit
liegt, führt zum teufel: nur die ergebung in die gesetze gottes, der glaube,
kann den menschen in die ewige seligkeit führen: so hatte die alte
antwort gelautet, nicht nur zu Luthers zeiten, sondern schon zu denen
des Clemens Romanus. dieser glaube hat sich in der geschichte vom
Faustus verkörpert, der glaube an die eingeborene schlechtigkeit der
menschennatur, welcher als rückschlag gegen das Hellenentum eben aus
diesem hervorgehen muſste, als es dem tode verfallen war. wir haben
jetzt diesen pessimismus überwunden: unsere heiligste überzeugung duldet
nicht mehr, daſs Faust der hölle verfällt. doch was wir selbst empfinden,
gehört nicht her: die übermenschliche gröſse der Faustsage, ihre sittliche
bedeutung als verkörperung einer ganzen erhabenen weltanschauung
leuchtet ein, ganz abgesehen davon, ob wir diese weltanschauung teilen.
so gewaltig ist diese sage, daſs der gröſste dichter vergeblich ein langes
leben danach gerungen hat, ihr aus eigner kraft einen neuen abschluſs
zu geben, der der veränderten sittlichen überzeugung genug täte: jeder
ehrliche mensch muſs zugestehn, daſs Goethes Faust inhaltlich in ebenso
kümmerlicher weise durch einen deus ex machina abgeschlossen wird
wie nur irgend ein euripideisches drama. aber die Faustsage ist der

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[286/0306] Der Herakles der sage. mensch hat gelebt, was erklärt man damit? doch höchstens das, was dem dorischen volke in den klüften des Pindos den anstoſs gegeben hat, die Heraklessage zu dichten. diese selbst bleibt ein gebilde der volksphantasie so oder so. jenes individuum ist wie sein name dahin, verweht, vergessen: der Herakles der sage hat sein eignes ewiges leben, und nur ihn gilt es zu erfassen. eine moderne analogie wird das verhältnis aufklären. es hat ein Dr. Johannes Faust wirklich gelebt, er ist eine geschichtlich sehr wol controllirbare person: aber für die Faustsage, welche die welt be- herrscht, ist er ganz gleichgiltig, und er hat ihrem träger weder den namen noch den inhalt gegeben, beide sind vielmehr über 1000 jahre älter. der Faust, der den conflict zwischen den zielen, den τέλη, des menschlichen strebens verkörpert, glücklich sein, weise sein, gut sein, hat mit dem dunklen ehrenmann, oder vielmehr dem obscuren lumpen Dr. Faust nichts zu tun, dessen geburt und tod in den acten aufgestöbert wird. der Faust von fleisch und bein ist gar nicht der wirkliche Faust: der ist vielmehr eine conception der volksphantasie, ein sohn derselben mutter, die in den schluchten des Pindos vom göttlichen geiste den Herakles em- pfangen hat. wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen. diese antwort hat in harmonie mit der empfindung seines volkes unser dichter auf die frage gegeben, welche die Faustsage stellt. das glück das im genusse liegt, ist des teufels; das glück das in irdischer weisheit liegt, führt zum teufel: nur die ergebung in die gesetze gottes, der glaube, kann den menschen in die ewige seligkeit führen: so hatte die alte antwort gelautet, nicht nur zu Luthers zeiten, sondern schon zu denen des Clemens Romanus. dieser glaube hat sich in der geschichte vom Faustus verkörpert, der glaube an die eingeborene schlechtigkeit der menschennatur, welcher als rückschlag gegen das Hellenentum eben aus diesem hervorgehen muſste, als es dem tode verfallen war. wir haben jetzt diesen pessimismus überwunden: unsere heiligste überzeugung duldet nicht mehr, daſs Faust der hölle verfällt. doch was wir selbst empfinden, gehört nicht her: die übermenschliche gröſse der Faustsage, ihre sittliche bedeutung als verkörperung einer ganzen erhabenen weltanschauung leuchtet ein, ganz abgesehen davon, ob wir diese weltanschauung teilen. so gewaltig ist diese sage, daſs der gröſste dichter vergeblich ein langes leben danach gerungen hat, ihr aus eigner kraft einen neuen abschluſs zu geben, der der veränderten sittlichen überzeugung genug täte: jeder ehrliche mensch muſs zugestehn, daſs Goethes Faust inhaltlich in ebenso kümmerlicher weise durch einen deus ex machina abgeschlossen wird wie nur irgend ein euripideisches drama. aber die Faustsage ist der

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 286. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/306>, abgerufen am 25.04.2024.