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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Der Herakles der sage.
sie in Miletos und Korinthos erhalten hat: das kann und muss die
forschung leisten. Milesische seefahrer haben schon im achten jahr-
hundert den Pontos befahren und seine südseite besetzt. damals ist
Kolchis als das ziel der fahrt festgestellt, die eigentlich die geraubte frau
aus dem lande der aufgehenden sonne heimholen wollte. gleichzeitig
sind viele ionische heroen auf die Argo gekommen: Herakles natürlich
nicht. die form der sage, welche uns geläufig ist, ward von den Korinthern
festgestellt, als diese ihre seemacht im westmeere begründeten. damals
ist Hera, die akraia von Korinth, die beschützerin des Iason geworden,
ist die rückfahrt durch das adriatische meer gelenkt, und ist wieder eine
anzahl heroen zugetreten. aber den Herakles mochten seine korinthischen
nachkommen nicht zuziehen, weil er keine seiner würdige stelle erhalten
konnte. sie begnügten sich also, sein fernbleiben angemessen zu moti-
viren, dass das schiff ihn nicht getragen, kein ruder stark genug für ihn
gewesen wäre oder ähnlich. aber um 550 gründeten Megarer und Boeoter
eine zukunft verheissende pflanzstadt an der pontischen küste, die sie
nach Herakles nannten. nun war er natürlich mit auf der Argo gewesen,
aber nur bis Herakleia mitgefahren. man verband eine artige heimische
fabel, vom Dryoperknaben Hylas, des Theiodamas sohn, dem eromenos
des helden, und einen cultgebrauch der mariandynischen perioeken Hera-
kleias, welche um einen heros Priolas oder Bormos 33) zu klagen in den
wald zogen: und eine neue sehr hübsche Heraklesfabel war fertig. den
Herakleoten ward es auch bald glaubenssache, dass Herakles bei ihnen
den höllenhund ans licht gebracht hätte, weil sie in ihrer neuen heimat
einen erdspalt hatten, der natürlich bis in die hölle reichen sollte. aber
mit diesem anspruche sind sie gegenüber den älteren localisirungen nicht
mehr durchgedrungen 34).

Der kampf um Ilios war durch das aeolische epos geschaffen. schon
als die Ionier dieses übernahmen, liess der vorrang der aeolischen helden
es unstatthaft erscheinen, ihnen die vornehmsten Ioniens an die seite
zu stellen. man führte also ihre 'epigonen' ein: nicht Tydeus sondern
Diomedes. dadurch ward für die relative chronologie der heroensage der
grund gelegt. das epos wanderte an der asiatischen küste südwärts und

33) Schol. Apollon. Rhod. II 780. Schol. Aisch. Pers. 938. Athen. XIV 619.
34) Herakleia, so fern es liegt, hat eine solche bedeutung für die sage erlangt,
weil es zu allen zeiten tüchtige schriftsteller gebar: schon um 400 hat Herodoros
eine pragmatische bearbeitung der Heraklessage geliefert. später haben Nymphis
Herakleides Chamaileon locale überlieferung auch unabsichtlich aufgenommen. so
entspricht dieser östlichste posten dem westlichsten, dem Himera des Stesichoros.

Der Herakles der sage.
sie in Miletos und Korinthos erhalten hat: das kann und muſs die
forschung leisten. Milesische seefahrer haben schon im achten jahr-
hundert den Pontos befahren und seine südseite besetzt. damals ist
Kolchis als das ziel der fahrt festgestellt, die eigentlich die geraubte frau
aus dem lande der aufgehenden sonne heimholen wollte. gleichzeitig
sind viele ionische heroen auf die Argo gekommen: Herakles natürlich
nicht. die form der sage, welche uns geläufig ist, ward von den Korinthern
festgestellt, als diese ihre seemacht im westmeere begründeten. damals
ist Hera, die ἀκραία von Korinth, die beschützerin des Iason geworden,
ist die rückfahrt durch das adriatische meer gelenkt, und ist wieder eine
anzahl heroen zugetreten. aber den Herakles mochten seine korinthischen
nachkommen nicht zuziehen, weil er keine seiner würdige stelle erhalten
konnte. sie begnügten sich also, sein fernbleiben angemessen zu moti-
viren, daſs das schiff ihn nicht getragen, kein ruder stark genug für ihn
gewesen wäre oder ähnlich. aber um 550 gründeten Megarer und Boeoter
eine zukunft verheiſsende pflanzstadt an der pontischen küste, die sie
nach Herakles nannten. nun war er natürlich mit auf der Argo gewesen,
aber nur bis Herakleia mitgefahren. man verband eine artige heimische
fabel, vom Dryoperknaben Hylas, des Theiodamas sohn, dem ἐρώμενος
des helden, und einen cultgebrauch der mariandynischen perioeken Hera-
kleias, welche um einen heros Priolas oder Bormos 33) zu klagen in den
wald zogen: und eine neue sehr hübsche Heraklesfabel war fertig. den
Herakleoten ward es auch bald glaubenssache, daſs Herakles bei ihnen
den höllenhund ans licht gebracht hätte, weil sie in ihrer neuen heimat
einen erdspalt hatten, der natürlich bis in die hölle reichen sollte. aber
mit diesem anspruche sind sie gegenüber den älteren localisirungen nicht
mehr durchgedrungen 34).

Der kampf um Ilios war durch das aeolische epos geschaffen. schon
als die Ionier dieses übernahmen, lieſs der vorrang der aeolischen helden
es unstatthaft erscheinen, ihnen die vornehmsten Ioniens an die seite
zu stellen. man führte also ihre ‘epigonen’ ein: nicht Tydeus sondern
Diomedes. dadurch ward für die relative chronologie der heroensage der
grund gelegt. das epos wanderte an der asiatischen küste südwärts und

33) Schol. Apollon. Rhod. II 780. Schol. Aisch. Pers. 938. Athen. XIV 619.
34) Herakleia, so fern es liegt, hat eine solche bedeutung für die sage erlangt,
weil es zu allen zeiten tüchtige schriftsteller gebar: schon um 400 hat Herodoros
eine pragmatische bearbeitung der Heraklessage geliefert. später haben Nymphis
Herakleides Chamaileon locale überlieferung auch unabsichtlich aufgenommen. so
entspricht dieser östlichste posten dem westlichsten, dem Himera des Stesichoros.
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[280/0300] Der Herakles der sage. sie in Miletos und Korinthos erhalten hat: das kann und muſs die forschung leisten. Milesische seefahrer haben schon im achten jahr- hundert den Pontos befahren und seine südseite besetzt. damals ist Kolchis als das ziel der fahrt festgestellt, die eigentlich die geraubte frau aus dem lande der aufgehenden sonne heimholen wollte. gleichzeitig sind viele ionische heroen auf die Argo gekommen: Herakles natürlich nicht. die form der sage, welche uns geläufig ist, ward von den Korinthern festgestellt, als diese ihre seemacht im westmeere begründeten. damals ist Hera, die ἀκραία von Korinth, die beschützerin des Iason geworden, ist die rückfahrt durch das adriatische meer gelenkt, und ist wieder eine anzahl heroen zugetreten. aber den Herakles mochten seine korinthischen nachkommen nicht zuziehen, weil er keine seiner würdige stelle erhalten konnte. sie begnügten sich also, sein fernbleiben angemessen zu moti- viren, daſs das schiff ihn nicht getragen, kein ruder stark genug für ihn gewesen wäre oder ähnlich. aber um 550 gründeten Megarer und Boeoter eine zukunft verheiſsende pflanzstadt an der pontischen küste, die sie nach Herakles nannten. nun war er natürlich mit auf der Argo gewesen, aber nur bis Herakleia mitgefahren. man verband eine artige heimische fabel, vom Dryoperknaben Hylas, des Theiodamas sohn, dem ἐρώμενος des helden, und einen cultgebrauch der mariandynischen perioeken Hera- kleias, welche um einen heros Priolas oder Bormos 33) zu klagen in den wald zogen: und eine neue sehr hübsche Heraklesfabel war fertig. den Herakleoten ward es auch bald glaubenssache, daſs Herakles bei ihnen den höllenhund ans licht gebracht hätte, weil sie in ihrer neuen heimat einen erdspalt hatten, der natürlich bis in die hölle reichen sollte. aber mit diesem anspruche sind sie gegenüber den älteren localisirungen nicht mehr durchgedrungen 34). Der kampf um Ilios war durch das aeolische epos geschaffen. schon als die Ionier dieses übernahmen, lieſs der vorrang der aeolischen helden es unstatthaft erscheinen, ihnen die vornehmsten Ioniens an die seite zu stellen. man führte also ihre ‘epigonen’ ein: nicht Tydeus sondern Diomedes. dadurch ward für die relative chronologie der heroensage der grund gelegt. das epos wanderte an der asiatischen küste südwärts und 33) Schol. Apollon. Rhod. II 780. Schol. Aisch. Pers. 938. Athen. XIV 619. 34) Herakleia, so fern es liegt, hat eine solche bedeutung für die sage erlangt, weil es zu allen zeiten tüchtige schriftsteller gebar: schon um 400 hat Herodoros eine pragmatische bearbeitung der Heraklessage geliefert. später haben Nymphis Herakleides Chamaileon locale überlieferung auch unabsichtlich aufgenommen. so entspricht dieser östlichste posten dem westlichsten, dem Himera des Stesichoros.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 280. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/300>, abgerufen am 25.04.2024.