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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Herakles der Dorer. sagen geschichtlichen inhalts.
strebte. und es ist ein beredtes zeugnis für die phantasielosigkeit der
Spartiaten, dass wir Herakles nicht aus dem Eurotastal vorbrechend Bel-
mina und Stenyklaros, Tegea und Thyrea bezwingen sehen.

In Boeotien hat die überwindung von Orchomenos, die spät und
nach hartem kampfe gelang 28), und die friedliche besitzergreifung von
Thespiai 29), neue, wenn auch farblose Heraklessagen erzeugt. die be-
kämpfung und verpflanzung der Dryoper um Delphoi ist vielleicht ein
nachhall sehr alter zustände; vielleicht ist sie aber auch nur ein versuch,
zu erklären, weshalb die Dorer von Argolis und Sparta ihre gegner in
Hermion beiden Asine und Korone eben so benannten, wie ehedem ihre
phokischen gegner; vielleicht ist auch Herakles als Dryoperfeind an stelle
des Phlegyerfeindes Apollon getreten 30). denn wo die einwanderer sich
des übergewichtes der älteren sagen nicht erwehren konnten, die im kreise
ihrer untertanen fortlebten, da begnügten sie sich damit, ihren heros
nur an die stelle eines älteren zu setzen, wie er im kampfe mit Kyknos
Achilleus verdrängt 31), oder ihn wenigstens mit helfen zu lassen, wie er
neben Peirithoos und den Lapithen gegen die Kentauren zieht 32). das
sind thessalische umbildungen. vollends durchsichtig sind die Herakles-
sagen, welche die dorische besetzung von Kos Rhodos Kyrene erzeugt
hat, und die thrakischen und grossgriechischen, deren oben gedacht
ward, führen den heros eben auch nur als vertreter seiner auswandernden
verehrer ein.

Es ist nicht dieses ortes, das material zu erschöpfen; aber noch ein
par charakteristische und datirbare sagen derselben art mögen kurz be-
sprochen werden, weil der commentar des euripideischen dramas keine
veranlassung geboten hat, sie zu erläutern.

Die Argonautensage ist im kerne uralt und schon in Thessalien
ausgebildet, wo sie immer haften geblieben ist. aber diese älteste form
wird sich niemals mit einiger sicherheit wieder gewinnen lassen. zur
zeit kennen wir noch nicht einmal die jüngeren formen genügend, welche

28) Vgl. zu vers 50. 280.
29) Hier führten sich die damoukhoi (Diodor IV 29) auf Herakles zurück, d. h. die
adelsfamilien, welche von der alt eingesessenen bevölkerung zugelassen waren: die
verschmelzung dieser beiden nationalitäten gibt die naive sage so wieder, dass Herakles
in einer nacht den 50 töchtern des Thespios zu söhnen verhilft.
30) Ohne eine mühsame sammlung des materiales der sagen und eine gleich-
zeitig alle s. g. dryopischen gegenden ins auge fassende behandlung ist nur das
allgemeine und auch das mit so starken restrictionen zu sagen.
31) Vgl. zu v. 110.
32) Vgl. zu v. 181. 364.

Herakles der Dorer. sagen geschichtlichen inhalts.
strebte. und es ist ein beredtes zeugnis für die phantasielosigkeit der
Spartiaten, daſs wir Herakles nicht aus dem Eurotastal vorbrechend Bel-
mina und Stenyklaros, Tegea und Thyrea bezwingen sehen.

In Boeotien hat die überwindung von Orchomenos, die spät und
nach hartem kampfe gelang 28), und die friedliche besitzergreifung von
Thespiai 29), neue, wenn auch farblose Heraklessagen erzeugt. die be-
kämpfung und verpflanzung der Dryoper um Delphoi ist vielleicht ein
nachhall sehr alter zustände; vielleicht ist sie aber auch nur ein versuch,
zu erklären, weshalb die Dorer von Argolis und Sparta ihre gegner in
Hermion beiden Asine und Korone eben so benannten, wie ehedem ihre
phokischen gegner; vielleicht ist auch Herakles als Dryoperfeind an stelle
des Phlegyerfeindes Apollon getreten 30). denn wo die einwanderer sich
des übergewichtes der älteren sagen nicht erwehren konnten, die im kreise
ihrer untertanen fortlebten, da begnügten sie sich damit, ihren heros
nur an die stelle eines älteren zu setzen, wie er im kampfe mit Kyknos
Achilleus verdrängt 31), oder ihn wenigstens mit helfen zu lassen, wie er
neben Peirithoos und den Lapithen gegen die Kentauren zieht 32). das
sind thessalische umbildungen. vollends durchsichtig sind die Herakles-
sagen, welche die dorische besetzung von Kos Rhodos Kyrene erzeugt
hat, und die thrakischen und groſsgriechischen, deren oben gedacht
ward, führen den heros eben auch nur als vertreter seiner auswandernden
verehrer ein.

Es ist nicht dieses ortes, das material zu erschöpfen; aber noch ein
par charakteristische und datirbare sagen derselben art mögen kurz be-
sprochen werden, weil der commentar des euripideischen dramas keine
veranlassung geboten hat, sie zu erläutern.

Die Argonautensage ist im kerne uralt und schon in Thessalien
ausgebildet, wo sie immer haften geblieben ist. aber diese älteste form
wird sich niemals mit einiger sicherheit wieder gewinnen lassen. zur
zeit kennen wir noch nicht einmal die jüngeren formen genügend, welche

28) Vgl. zu vers 50. 280.
29) Hier führten sich die δαμοῦχοι (Diodor IV 29) auf Herakles zurück, d. h. die
adelsfamilien, welche von der alt eingesessenen bevölkerung zugelassen waren: die
verschmelzung dieser beiden nationalitäten gibt die naive sage so wieder, daſs Herakles
in einer nacht den 50 töchtern des Thespios zu söhnen verhilft.
30) Ohne eine mühsame sammlung des materiales der sagen und eine gleich-
zeitig alle s. g. dryopischen gegenden ins auge fassende behandlung ist nur das
allgemeine und auch das mit so starken restrictionen zu sagen.
31) Vgl. zu v. 110.
32) Vgl. zu v. 181. 364.
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[279/0299] Herakles der Dorer. sagen geschichtlichen inhalts. strebte. und es ist ein beredtes zeugnis für die phantasielosigkeit der Spartiaten, daſs wir Herakles nicht aus dem Eurotastal vorbrechend Bel- mina und Stenyklaros, Tegea und Thyrea bezwingen sehen. In Boeotien hat die überwindung von Orchomenos, die spät und nach hartem kampfe gelang 28), und die friedliche besitzergreifung von Thespiai 29), neue, wenn auch farblose Heraklessagen erzeugt. die be- kämpfung und verpflanzung der Dryoper um Delphoi ist vielleicht ein nachhall sehr alter zustände; vielleicht ist sie aber auch nur ein versuch, zu erklären, weshalb die Dorer von Argolis und Sparta ihre gegner in Hermion beiden Asine und Korone eben so benannten, wie ehedem ihre phokischen gegner; vielleicht ist auch Herakles als Dryoperfeind an stelle des Phlegyerfeindes Apollon getreten 30). denn wo die einwanderer sich des übergewichtes der älteren sagen nicht erwehren konnten, die im kreise ihrer untertanen fortlebten, da begnügten sie sich damit, ihren heros nur an die stelle eines älteren zu setzen, wie er im kampfe mit Kyknos Achilleus verdrängt 31), oder ihn wenigstens mit helfen zu lassen, wie er neben Peirithoos und den Lapithen gegen die Kentauren zieht 32). das sind thessalische umbildungen. vollends durchsichtig sind die Herakles- sagen, welche die dorische besetzung von Kos Rhodos Kyrene erzeugt hat, und die thrakischen und groſsgriechischen, deren oben gedacht ward, führen den heros eben auch nur als vertreter seiner auswandernden verehrer ein. Es ist nicht dieses ortes, das material zu erschöpfen; aber noch ein par charakteristische und datirbare sagen derselben art mögen kurz be- sprochen werden, weil der commentar des euripideischen dramas keine veranlassung geboten hat, sie zu erläutern. Die Argonautensage ist im kerne uralt und schon in Thessalien ausgebildet, wo sie immer haften geblieben ist. aber diese älteste form wird sich niemals mit einiger sicherheit wieder gewinnen lassen. zur zeit kennen wir noch nicht einmal die jüngeren formen genügend, welche 28) Vgl. zu vers 50. 280. 29) Hier führten sich die δαμοῦχοι (Diodor IV 29) auf Herakles zurück, d. h. die adelsfamilien, welche von der alt eingesessenen bevölkerung zugelassen waren: die verschmelzung dieser beiden nationalitäten gibt die naive sage so wieder, daſs Herakles in einer nacht den 50 töchtern des Thespios zu söhnen verhilft. 30) Ohne eine mühsame sammlung des materiales der sagen und eine gleich- zeitig alle s. g. dryopischen gegenden ins auge fassende behandlung ist nur das allgemeine und auch das mit so starken restrictionen zu sagen. 31) Vgl. zu v. 110. 32) Vgl. zu v. 181. 364.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 279. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/299>, abgerufen am 24.04.2024.