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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Der Herakles der sage.
welchen die abenteuer schon durch die sagenschreiber des 5. jahrhunderts
gebracht sind, ist vorwiegend durch solche nationalen momente bedingt:
aber selbst sie haben nie vergessen, dass dies alles für die eigentliche
Heraklessage nebensächlich ist, und haben alle diese taten als parerga
bezeichnet. das ist eine strenge aber allerdings treffende beurteilung
ihres wertes. um das wesen des Herakles im kerne zu erfassen, könnte
man von dem vertreter der Dorer ganz absehen. allein dieses spätere
gezweige, die wirren schösslinge und wasserreiser decken jetzt den stamm:
auch wenn man sie nur beseitigen wollte, müsste man sie näher be-
trachten; nun haben sie aber nicht nur eine hervorragende geschicht-
liche bedeutsamkeit, sie sind auch äusserst belehrend für die methode,
welche in der analyse der heroenmythen erfordert wird, weil sie vielfach
sehr jung und relativ, zum teil sogar absolut datirbar sind.

Sagen
geschicht-
lichen
inhalts.

Die besitzergreifung des Peloponneses selbst ist nicht zu einer tat
des Herakles geworden, sondern hat sich in wie auch immer getrübter
geschichtlicher erinnerung selbst erhalten. die Dorer haben vielmehr die
legitimation ihrer einwanderung darin gesehen, dass ihr ahn, Herakles,
selbst ein spross der argolischen herrscherfamilie gewesen wäre und
widerrechtlich seines erbes beraubt. somit ist in der ganzen sage, soweit
sie die geburt in Tiryns, die dienstbarkeit bei Eurystheus, die vertreibung
aus dem Peloponnes voraussetzt, ein zug als voraussetzung in das bild
gebracht, der lediglich dorische geschichte zum ausdruck bringt. es gibt
ferner eine anzahl sagen, welche Herakles Elis Lepreon Messenien (Pylos,
Oichalia) Lakedaimon erobern lassen; allein sie sind weder sehr volks-
tümlich, noch reich ausgebildet, der poesie fast, der bildenden kunst ganz
fremd, führen auch nicht zur besitzergreifung, lassen zudem den heros
als heerkönig wenigstens meistens auftreten, was immer etwas secundäres
ist, so dass sie durchaus nicht als ein niederschlag der erinnerung an
die einwanderung gelten können 27). dass Herakles hier stets als Argeier
auftritt, zeigt deutlich, dass wir es mit dem niederschlage der kämpfe
zu tun haben, in denen Argos die suprematie über den Peloponnes an-

27) Natürlich müssen auch diese sagen in irgend welcher poetischen form in
alter zeit umgegangen sein, wie hätten sie sich sonst erhalten? aber von dieser
form wissen wir nichts, weil nichts die archaische zeit überdauert hat. es erheben
sich hier die unten am dodekathlos genauer behandelten schwierigkeiten. z. b. ist
Herakles die Hippokoontiden überwindend von Alkman so breit dargestellt, dass
schon um der fülle von namen willen eine feste, wol sicher poetische tradition zu
grunde liegen muss, aber nichts hindert diese für argolisch anzusehen. localspar-
tanisches ist gerade in dieser geschichte, wenigstens so weit sie bekannt ist, so
gut wie gar nichts.

Der Herakles der sage.
welchen die abenteuer schon durch die sagenschreiber des 5. jahrhunderts
gebracht sind, ist vorwiegend durch solche nationalen momente bedingt:
aber selbst sie haben nie vergessen, daſs dies alles für die eigentliche
Heraklessage nebensächlich ist, und haben alle diese taten als πάρεργα
bezeichnet. das ist eine strenge aber allerdings treffende beurteilung
ihres wertes. um das wesen des Herakles im kerne zu erfassen, könnte
man von dem vertreter der Dorer ganz absehen. allein dieses spätere
gezweige, die wirren schöſslinge und wasserreiser decken jetzt den stamm:
auch wenn man sie nur beseitigen wollte, müſste man sie näher be-
trachten; nun haben sie aber nicht nur eine hervorragende geschicht-
liche bedeutsamkeit, sie sind auch äuſserst belehrend für die methode,
welche in der analyse der heroenmythen erfordert wird, weil sie vielfach
sehr jung und relativ, zum teil sogar absolut datirbar sind.

Sagen
geschicht-
lichen
inhalts.

Die besitzergreifung des Peloponneses selbst ist nicht zu einer tat
des Herakles geworden, sondern hat sich in wie auch immer getrübter
geschichtlicher erinnerung selbst erhalten. die Dorer haben vielmehr die
legitimation ihrer einwanderung darin gesehen, daſs ihr ahn, Herakles,
selbst ein sproſs der argolischen herrscherfamilie gewesen wäre und
widerrechtlich seines erbes beraubt. somit ist in der ganzen sage, soweit
sie die geburt in Tiryns, die dienstbarkeit bei Eurystheus, die vertreibung
aus dem Peloponnes voraussetzt, ein zug als voraussetzung in das bild
gebracht, der lediglich dorische geschichte zum ausdruck bringt. es gibt
ferner eine anzahl sagen, welche Herakles Elis Lepreon Messenien (Pylos,
Oichalia) Lakedaimon erobern lassen; allein sie sind weder sehr volks-
tümlich, noch reich ausgebildet, der poesie fast, der bildenden kunst ganz
fremd, führen auch nicht zur besitzergreifung, lassen zudem den heros
als heerkönig wenigstens meistens auftreten, was immer etwas secundäres
ist, so daſs sie durchaus nicht als ein niederschlag der erinnerung an
die einwanderung gelten können 27). daſs Herakles hier stets als Argeier
auftritt, zeigt deutlich, daſs wir es mit dem niederschlage der kämpfe
zu tun haben, in denen Argos die suprematie über den Peloponnes an-

27) Natürlich müssen auch diese sagen in irgend welcher poetischen form in
alter zeit umgegangen sein, wie hätten sie sich sonst erhalten? aber von dieser
form wissen wir nichts, weil nichts die archaische zeit überdauert hat. es erheben
sich hier die unten am dodekathlos genauer behandelten schwierigkeiten. z. b. ist
Herakles die Hippokoontiden überwindend von Alkman so breit dargestellt, daſs
schon um der fülle von namen willen eine feste, wol sicher poetische tradition zu
grunde liegen muſs, aber nichts hindert diese für argolisch anzusehen. localspar-
tanisches ist gerade in dieser geschichte, wenigstens so weit sie bekannt ist, so
gut wie gar nichts.
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[278/0298] Der Herakles der sage. welchen die abenteuer schon durch die sagenschreiber des 5. jahrhunderts gebracht sind, ist vorwiegend durch solche nationalen momente bedingt: aber selbst sie haben nie vergessen, daſs dies alles für die eigentliche Heraklessage nebensächlich ist, und haben alle diese taten als πάρεργα bezeichnet. das ist eine strenge aber allerdings treffende beurteilung ihres wertes. um das wesen des Herakles im kerne zu erfassen, könnte man von dem vertreter der Dorer ganz absehen. allein dieses spätere gezweige, die wirren schöſslinge und wasserreiser decken jetzt den stamm: auch wenn man sie nur beseitigen wollte, müſste man sie näher be- trachten; nun haben sie aber nicht nur eine hervorragende geschicht- liche bedeutsamkeit, sie sind auch äuſserst belehrend für die methode, welche in der analyse der heroenmythen erfordert wird, weil sie vielfach sehr jung und relativ, zum teil sogar absolut datirbar sind. Die besitzergreifung des Peloponneses selbst ist nicht zu einer tat des Herakles geworden, sondern hat sich in wie auch immer getrübter geschichtlicher erinnerung selbst erhalten. die Dorer haben vielmehr die legitimation ihrer einwanderung darin gesehen, daſs ihr ahn, Herakles, selbst ein sproſs der argolischen herrscherfamilie gewesen wäre und widerrechtlich seines erbes beraubt. somit ist in der ganzen sage, soweit sie die geburt in Tiryns, die dienstbarkeit bei Eurystheus, die vertreibung aus dem Peloponnes voraussetzt, ein zug als voraussetzung in das bild gebracht, der lediglich dorische geschichte zum ausdruck bringt. es gibt ferner eine anzahl sagen, welche Herakles Elis Lepreon Messenien (Pylos, Oichalia) Lakedaimon erobern lassen; allein sie sind weder sehr volks- tümlich, noch reich ausgebildet, der poesie fast, der bildenden kunst ganz fremd, führen auch nicht zur besitzergreifung, lassen zudem den heros als heerkönig wenigstens meistens auftreten, was immer etwas secundäres ist, so daſs sie durchaus nicht als ein niederschlag der erinnerung an die einwanderung gelten können 27). daſs Herakles hier stets als Argeier auftritt, zeigt deutlich, daſs wir es mit dem niederschlage der kämpfe zu tun haben, in denen Argos die suprematie über den Peloponnes an- 27) Natürlich müssen auch diese sagen in irgend welcher poetischen form in alter zeit umgegangen sein, wie hätten sie sich sonst erhalten? aber von dieser form wissen wir nichts, weil nichts die archaische zeit überdauert hat. es erheben sich hier die unten am dodekathlos genauer behandelten schwierigkeiten. z. b. ist Herakles die Hippokoontiden überwindend von Alkman so breit dargestellt, daſs schon um der fülle von namen willen eine feste, wol sicher poetische tradition zu grunde liegen muſs, aber nichts hindert diese für argolisch anzusehen. localspar- tanisches ist gerade in dieser geschichte, wenigstens so weit sie bekannt ist, so gut wie gar nichts.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 278. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/298>, abgerufen am 29.03.2024.