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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Der Herakles der sage.
gestellt ist, opfert man ihm ohne bedenken alles andere, mag es auch so
teuer sein wie die familie, und man opfert ihm selbst das eigene streben
über die gegenwart hinaus. selbstgenügsamkeit und selbstgerechtigkeit
wohnen nah bei einander. über dem einzelnen manne steht nur die summe
der männer, der stand. der stand muss den staat ersetzen, und der indi-
vidualismus, welcher nichts über sich erkennt, führt schliesslich zur ver-
leugnung der individualität. es ist eine äusserst beschränkte, aber wahrhaft
grosse erscheinung, einzig in ihrer art, dieses dorische wesen. um so
viel mehr muss dasselbe von dem religiösen ausdrucke dieser alles durch-
dringenden empfindung gelten. dass die Dorer eine göttliche person ge-
glaubt hätten, in welcher sich ihr mannesideal verkörperte, müsste man
a priori fordern, wenn anders sie nur ein wenig hellenisch zu empfinden
wussten. nun steht diese überwältigend grosse religiöse schöpfung vor
unser aller augen: Herakles, der aner theos, wie ihn Pindar und Sophokles
nennen. er ist die einzige grosse gestalt, welche die einwanderer der
hellenischen religion zugeführt haben, wie das ihrem wesen entspricht.
aber sie ist dafür auch eine der grossartigsten schöpfungen, zu der je
die phantasie eines volkes emporgestiegen ist.

Dafür legt schon das zeugnis ab, dass es unmöglich erschien, das
wesen des Herakles zu erfassen und darzustellen, ohne die geschichte
der völkerwanderung in ihren hauptzügen darzustellen und die völker-
gruppen zu sondern. nur so ist aussicht vorhanden, ordnung in das
chaos der sagenmasse zu bringen und das gemeinsam dorische zu erfassen.
andererseits würde die Heraklesreligion selbst unweigerlich haben dar-
gelegt werden müssen, wenn die aufgabe gewesen wäre, die geschichte
der dorischen wanderung zu erzählen. die griechische geschichte und die
griechische religion und sage gehören zusammen, weil der inhalt teils
identisch ist, teils eines das andere bedingt. die heillose begriffsverwirrung,
die in diesen dingen meist herrscht, ist dadurch hervorgebracht, dass die
historiker vom handwerk mit der sage nicht arbeiten mögen oder können,
die dann den mythologen vom handwerk anheimfällt, welche an die ge-
schichte gar nicht denken.

H. fehlt den
Hellenen.

Die Hellenen, d. h. also die autochthone bevölkerung, hat Herakles
nicht gekannt. Aeolern und Ioniern ist er fremd gewesen und immer
ein fremder geblieben. die auswanderer haben ihn nicht an die asiatische
küste mitgenommen, und die ältere asiatische schicht des epos kennt
ihn nicht. erst als die von der westseite des Peloponnes colonisirte
dorische hexapolis auf das epos einwirkt, und dann vollends, als das epos
nach dem mutterland übergreift, dringt Herakles, immer jedoch als fremder,

Der Herakles der sage.
gestellt ist, opfert man ihm ohne bedenken alles andere, mag es auch so
teuer sein wie die familie, und man opfert ihm selbst das eigene streben
über die gegenwart hinaus. selbstgenügsamkeit und selbstgerechtigkeit
wohnen nah bei einander. über dem einzelnen manne steht nur die summe
der männer, der stand. der stand muſs den staat ersetzen, und der indi-
vidualismus, welcher nichts über sich erkennt, führt schlieſslich zur ver-
leugnung der individualität. es ist eine äuſserst beschränkte, aber wahrhaft
groſse erscheinung, einzig in ihrer art, dieses dorische wesen. um so
viel mehr muſs dasselbe von dem religiösen ausdrucke dieser alles durch-
dringenden empfindung gelten. daſs die Dorer eine göttliche person ge-
glaubt hätten, in welcher sich ihr mannesideal verkörperte, müſste man
a priori fordern, wenn anders sie nur ein wenig hellenisch zu empfinden
wuſsten. nun steht diese überwältigend groſse religiöse schöpfung vor
unser aller augen: Herakles, der ἀνὴρ ϑεός, wie ihn Pindar und Sophokles
nennen. er ist die einzige groſse gestalt, welche die einwanderer der
hellenischen religion zugeführt haben, wie das ihrem wesen entspricht.
aber sie ist dafür auch eine der groſsartigsten schöpfungen, zu der je
die phantasie eines volkes emporgestiegen ist.

Dafür legt schon das zeugnis ab, daſs es unmöglich erschien, das
wesen des Herakles zu erfassen und darzustellen, ohne die geschichte
der völkerwanderung in ihren hauptzügen darzustellen und die völker-
gruppen zu sondern. nur so ist aussicht vorhanden, ordnung in das
chaos der sagenmasse zu bringen und das gemeinsam dorische zu erfassen.
andererseits würde die Heraklesreligion selbst unweigerlich haben dar-
gelegt werden müssen, wenn die aufgabe gewesen wäre, die geschichte
der dorischen wanderung zu erzählen. die griechische geschichte und die
griechische religion und sage gehören zusammen, weil der inhalt teils
identisch ist, teils eines das andere bedingt. die heillose begriffsverwirrung,
die in diesen dingen meist herrscht, ist dadurch hervorgebracht, daſs die
historiker vom handwerk mit der sage nicht arbeiten mögen oder können,
die dann den mythologen vom handwerk anheimfällt, welche an die ge-
schichte gar nicht denken.

H. fehlt den
Hellenen.

Die Hellenen, d. h. also die autochthone bevölkerung, hat Herakles
nicht gekannt. Aeolern und Ioniern ist er fremd gewesen und immer
ein fremder geblieben. die auswanderer haben ihn nicht an die asiatische
küste mitgenommen, und die ältere asiatische schicht des epos kennt
ihn nicht. erst als die von der westseite des Peloponnes colonisirte
dorische hexapolis auf das epos einwirkt, und dann vollends, als das epos
nach dem mutterland übergreift, dringt Herakles, immer jedoch als fremder,

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[270/0290] Der Herakles der sage. gestellt ist, opfert man ihm ohne bedenken alles andere, mag es auch so teuer sein wie die familie, und man opfert ihm selbst das eigene streben über die gegenwart hinaus. selbstgenügsamkeit und selbstgerechtigkeit wohnen nah bei einander. über dem einzelnen manne steht nur die summe der männer, der stand. der stand muſs den staat ersetzen, und der indi- vidualismus, welcher nichts über sich erkennt, führt schlieſslich zur ver- leugnung der individualität. es ist eine äuſserst beschränkte, aber wahrhaft groſse erscheinung, einzig in ihrer art, dieses dorische wesen. um so viel mehr muſs dasselbe von dem religiösen ausdrucke dieser alles durch- dringenden empfindung gelten. daſs die Dorer eine göttliche person ge- glaubt hätten, in welcher sich ihr mannesideal verkörperte, müſste man a priori fordern, wenn anders sie nur ein wenig hellenisch zu empfinden wuſsten. nun steht diese überwältigend groſse religiöse schöpfung vor unser aller augen: Herakles, der ἀνὴρ ϑεός, wie ihn Pindar und Sophokles nennen. er ist die einzige groſse gestalt, welche die einwanderer der hellenischen religion zugeführt haben, wie das ihrem wesen entspricht. aber sie ist dafür auch eine der groſsartigsten schöpfungen, zu der je die phantasie eines volkes emporgestiegen ist. Dafür legt schon das zeugnis ab, daſs es unmöglich erschien, das wesen des Herakles zu erfassen und darzustellen, ohne die geschichte der völkerwanderung in ihren hauptzügen darzustellen und die völker- gruppen zu sondern. nur so ist aussicht vorhanden, ordnung in das chaos der sagenmasse zu bringen und das gemeinsam dorische zu erfassen. andererseits würde die Heraklesreligion selbst unweigerlich haben dar- gelegt werden müssen, wenn die aufgabe gewesen wäre, die geschichte der dorischen wanderung zu erzählen. die griechische geschichte und die griechische religion und sage gehören zusammen, weil der inhalt teils identisch ist, teils eines das andere bedingt. die heillose begriffsverwirrung, die in diesen dingen meist herrscht, ist dadurch hervorgebracht, daſs die historiker vom handwerk mit der sage nicht arbeiten mögen oder können, die dann den mythologen vom handwerk anheimfällt, welche an die ge- schichte gar nicht denken. Die Hellenen, d. h. also die autochthone bevölkerung, hat Herakles nicht gekannt. Aeolern und Ioniern ist er fremd gewesen und immer ein fremder geblieben. die auswanderer haben ihn nicht an die asiatische küste mitgenommen, und die ältere asiatische schicht des epos kennt ihn nicht. erst als die von der westseite des Peloponnes colonisirte dorische hexapolis auf das epos einwirkt, und dann vollends, als das epos nach dem mutterland übergreift, dringt Herakles, immer jedoch als fremder,

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 270. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/290>, abgerufen am 25.04.2024.