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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Boeoter und Thessaler. Dorer.
unter einem herzog zusammenfanden. aber die hellenische civilisation
sass auf der ostküste, trotzdem die kräftigsten elemente auswanderten, zu
tief, als dass sie die herren nicht sehr bald zu sich hinübergezogen
hätte. die verhältnisse gemahnen oft an die besetzungen altromanischer
landstriche durch die Germanen, die auch ihr volkstum unweigerlich ein-
büssen müssen. in geistiger beziehung sind Thessaler und Boeoter niemals
als volle Hellenen angesehen worden, und haben es eigentlich selbst kaum
je ernstlich angestrebt. Pindaros ist dem herzen und dem glauben nach
ein Boeoter gewesen; aber der abkunft nach hat er es wenigstens nicht
sein wollen, und da sein name ausser auf Thera auch in Ephesos wider-
kehrt, so war sein blut wol wirklich kadmeisches.

Geschichtlich bedeutend und schaffend sind vielmehr nur die einwan-Dorer.
derer geworden, nach denen wir gewohnt sind die ganze völkerwanderung
zu nennen, die Dorer. wir treffen sie erst spät, auf schon vorgeschobenen
sitzen, im berglande nördlich vom Parnassos. an diesem sind ein par
dorische dörfer erhalten geblieben, weil sie als urheimat von den mächtigen
brüdern im Peloponnes geschützt wurden. und auch das heiligtum von
Delphi ist der dorischen usurpation nur vorübergehend wieder entrissen
worden, während die landschaft, in welcher es liegt, den älteren anwohnern,
Phokern und Lokrern, wieder zufiel. dadurch ist das orakel zu seiner
macht gekommen, und ist andererseits Apollon, dem es schon früher gehört
hatte, zu einem Dorergotte gemacht, obwol die Dorer vorher schwerlich
auch nur den namen des althellenischen gottes gekannt hatten9). sie

der bund lediglich die form einer hellenischen symmachie. es mag wol sein, dass
namen wie Aones Temmikes Ektenes boeotische gaunamen sind, aber sie sind von
nachweislich vorboeotischen wie `'Uantes Abantes nicht sicher zu sondern.
9) Auch in Thessalien und Boeotien sind die cultstätten des Apollon vordorisch,
aber sie gehen hier immer mehr an bedeutung zurück. die amphiktionie ist eine
institution, gestiftet zunächst zur sicherung des landfriedens auf den grossen heer-
strassen, welche zwar die anwesenheit, aber nicht die übermacht der einwanderer zur
voraussetzung hat: erst diese übermacht bedient sich dieses mittels und als wichtigsten
hebels des delphischen gottes. die dorischen, nicht eingeborenen, delphischen priester
feiert der homerische hymnus an Apollon, der in diesen teilen dem ende des 7. jahr-
hunderts angehört: wenn er sie aus Kreta holt, so zeigt sich darin die später so
häufige vorstellung zum ersten male, dass Kreta der sitz der reinen Dorer ist, in
naiver umkehrung des verhältnisses; in wahrheit waren die Dorer vom Parnass
nach Kreta gezogen. bald danach ward der krisäische krieg geführt, welcher die
macht derselben priesterschaft befestigte, die den meisten gliedern der amphiktionie
ungefährlicher schien, als wenn das orakel in den händen der Phoker oder Lokrer
war. die occupation des orakels durch die Dorer liegt in der sage sehr deutlich
vor: Herakles raubt den dreifuss, und der conflict der götter schliesst mit einem

Boeoter und Thessaler. Dorer.
unter einem herzog zusammenfanden. aber die hellenische civilisation
saſs auf der ostküste, trotzdem die kräftigsten elemente auswanderten, zu
tief, als daſs sie die herren nicht sehr bald zu sich hinübergezogen
hätte. die verhältnisse gemahnen oft an die besetzungen altromanischer
landstriche durch die Germanen, die auch ihr volkstum unweigerlich ein-
büſsen müssen. in geistiger beziehung sind Thessaler und Boeoter niemals
als volle Hellenen angesehen worden, und haben es eigentlich selbst kaum
je ernstlich angestrebt. Pindaros ist dem herzen und dem glauben nach
ein Boeoter gewesen; aber der abkunft nach hat er es wenigstens nicht
sein wollen, und da sein name auſser auf Thera auch in Ephesos wider-
kehrt, so war sein blut wol wirklich kadmeisches.

Geschichtlich bedeutend und schaffend sind vielmehr nur die einwan-Dorer.
derer geworden, nach denen wir gewohnt sind die ganze völkerwanderung
zu nennen, die Dorer. wir treffen sie erst spät, auf schon vorgeschobenen
sitzen, im berglande nördlich vom Parnassos. an diesem sind ein par
dorische dörfer erhalten geblieben, weil sie als urheimat von den mächtigen
brüdern im Peloponnes geschützt wurden. und auch das heiligtum von
Delphi ist der dorischen usurpation nur vorübergehend wieder entrissen
worden, während die landschaft, in welcher es liegt, den älteren anwohnern,
Phokern und Lokrern, wieder zufiel. dadurch ist das orakel zu seiner
macht gekommen, und ist andererseits Apollon, dem es schon früher gehört
hatte, zu einem Dorergotte gemacht, obwol die Dorer vorher schwerlich
auch nur den namen des althellenischen gottes gekannt hatten9). sie

der bund lediglich die form einer hellenischen symmachie. es mag wol sein, daſs
namen wie Ἄονες Τέμμικες Ἐκτῆνες boeotische gaunamen sind, aber sie sind von
nachweislich vorboeotischen wie ῞ϒαντες Ἄβαντες nicht sicher zu sondern.
9) Auch in Thessalien und Boeotien sind die cultstätten des Apollon vordorisch,
aber sie gehen hier immer mehr an bedeutung zurück. die amphiktionie ist eine
institution, gestiftet zunächst zur sicherung des landfriedens auf den groſsen heer-
straſsen, welche zwar die anwesenheit, aber nicht die übermacht der einwanderer zur
voraussetzung hat: erst diese übermacht bedient sich dieses mittels und als wichtigsten
hebels des delphischen gottes. die dorischen, nicht eingeborenen, delphischen priester
feiert der homerische hymnus an Apollon, der in diesen teilen dem ende des 7. jahr-
hunderts angehört: wenn er sie aus Kreta holt, so zeigt sich darin die später so
häufige vorstellung zum ersten male, daſs Kreta der sitz der reinen Dorer ist, in
naiver umkehrung des verhältnisses; in wahrheit waren die Dorer vom Parnaſs
nach Kreta gezogen. bald danach ward der krisäische krieg geführt, welcher die
macht derselben priesterschaft befestigte, die den meisten gliedern der amphiktionie
ungefährlicher schien, als wenn das orakel in den händen der Phoker oder Lokrer
war. die occupation des orakels durch die Dorer liegt in der sage sehr deutlich
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[265/0285] Boeoter und Thessaler. Dorer. unter einem herzog zusammenfanden. aber die hellenische civilisation saſs auf der ostküste, trotzdem die kräftigsten elemente auswanderten, zu tief, als daſs sie die herren nicht sehr bald zu sich hinübergezogen hätte. die verhältnisse gemahnen oft an die besetzungen altromanischer landstriche durch die Germanen, die auch ihr volkstum unweigerlich ein- büſsen müssen. in geistiger beziehung sind Thessaler und Boeoter niemals als volle Hellenen angesehen worden, und haben es eigentlich selbst kaum je ernstlich angestrebt. Pindaros ist dem herzen und dem glauben nach ein Boeoter gewesen; aber der abkunft nach hat er es wenigstens nicht sein wollen, und da sein name auſser auf Thera auch in Ephesos wider- kehrt, so war sein blut wol wirklich kadmeisches. Geschichtlich bedeutend und schaffend sind vielmehr nur die einwan- derer geworden, nach denen wir gewohnt sind die ganze völkerwanderung zu nennen, die Dorer. wir treffen sie erst spät, auf schon vorgeschobenen sitzen, im berglande nördlich vom Parnassos. an diesem sind ein par dorische dörfer erhalten geblieben, weil sie als urheimat von den mächtigen brüdern im Peloponnes geschützt wurden. und auch das heiligtum von Delphi ist der dorischen usurpation nur vorübergehend wieder entrissen worden, während die landschaft, in welcher es liegt, den älteren anwohnern, Phokern und Lokrern, wieder zufiel. dadurch ist das orakel zu seiner macht gekommen, und ist andererseits Apollon, dem es schon früher gehört hatte, zu einem Dorergotte gemacht, obwol die Dorer vorher schwerlich auch nur den namen des althellenischen gottes gekannt hatten 9). sie 8) Dorer. 9) Auch in Thessalien und Boeotien sind die cultstätten des Apollon vordorisch, aber sie gehen hier immer mehr an bedeutung zurück. die amphiktionie ist eine institution, gestiftet zunächst zur sicherung des landfriedens auf den groſsen heer- straſsen, welche zwar die anwesenheit, aber nicht die übermacht der einwanderer zur voraussetzung hat: erst diese übermacht bedient sich dieses mittels und als wichtigsten hebels des delphischen gottes. die dorischen, nicht eingeborenen, delphischen priester feiert der homerische hymnus an Apollon, der in diesen teilen dem ende des 7. jahr- hunderts angehört: wenn er sie aus Kreta holt, so zeigt sich darin die später so häufige vorstellung zum ersten male, daſs Kreta der sitz der reinen Dorer ist, in naiver umkehrung des verhältnisses; in wahrheit waren die Dorer vom Parnaſs nach Kreta gezogen. bald danach ward der krisäische krieg geführt, welcher die macht derselben priesterschaft befestigte, die den meisten gliedern der amphiktionie ungefährlicher schien, als wenn das orakel in den händen der Phoker oder Lokrer war. die occupation des orakels durch die Dorer liegt in der sage sehr deutlich vor: Herakles raubt den dreifuſs, und der conflict der götter schlieſst mit einem 8) der bund lediglich die form einer hellenischen symmachie. es mag wol sein, daſs namen wie Ἄονες Τέμμικες Ἐκτῆνες boeotische gaunamen sind, aber sie sind von nachweislich vorboeotischen wie ῞ϒαντες Ἄβαντες nicht sicher zu sondern.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 265. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/285>, abgerufen am 20.04.2024.