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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Wege und ziele der modernen tragikerkritik.
ihre pflicht ungenügend erfüllt hat, ist dieses in seiner bedeutung für die
gesammtentwickelung des volkes allgemein verkannt. es ist nur recht, dass
die verschiedenen zeiten sich in dem unermesslichen gebiete der altertums-
wissenschaft verschiedene felder zu bebauen wählen. und so würde es
kein schade gewesen sein, dass die anregungen, welche Lachmann Ritschl
Mommsen gaben, dem vorher vernachlässigten Römertum gebührende be-
arbeitung zuführten, dass die monumentale philologie die talente mehr
anzuziehen begann als die schriftstellerkritik -- wenn nicht das studium der
attischen tragödie so gut wie das Homers und der beiden fürsten der philo-
sophie für alle seiten hellenischer studien unentbehrlich wäre. aber man
bedenke: das ganze griechische leben wird in den generationen umgestaltet,
mit welchen Sophokles und Euripides leben, während das Athen, das den
Meder schlug, nur durch Aischylos für uns vertreten ist. das Athen,
welches die alte physik und istoria loniens aufnahm und durch die
sophistik sowol die beredsamkeit wie die philosophie vorbereitete, spricht
nur im drama selbst zu uns. jede ernste mythographische forschung
lehrt, dass der ausgangspunkt im drama liegt, mag man aufwärts zu Homer
oder abwärts zu Nonnus gehen. jede sprachliche forschung bedarf dieses
mittelgliedes zwischen der archaischen rede und der gemeinen Atthis.
wie jede archaeologische forschung auf die architektur, skulptur und
malerei des 5. jahrhunderts als auf das centrum zurückführt, so steht es
fast mit jeder forschung auf jedem gebiete des geistigen lebens. die ganze
griechische poesie culminirt im drama, dessen vorstufen epos und lyrik
sind, das selbst den sokratischen dialog und das menandrische lustspiel
gezeugt hat. die ganze griechische geschichte culminirt im fünften jahr-
hundert. die tragödie ist die poesie des attischen Reiches: das sagt
genugsam, dass kein geschichtliches erfassen des Hellenentums an dem
drama vorbeigehen darf, und dass der zustand die schwersten folgen haben
musste, in dem wir leben, wo Euripides keinen andersartigen wert für
den historiker zu haben scheint als etwa Anakreon oder Aratos.

So hohe forderungen erhebt die philologie als geschichtliche wissen-
schaft. und sie ist doch selbst auch noch etwas anderes. sonst würde es
genügen ein buch über das drama zu schreiben, nicht einen commentar zu
einem einzelnen stücke, zumal dies viel mühsamer ist. es kommt vielmehr
darauf an, dass der alte dichter zu worte komme, nicht ein moderner pro-
fessor. wie wir unser geschäft nur dann recht besorgen, wenn wir in jedes
alte buch, das wir unter den händen haben, nicht unsern geist hineintragen,
sondern das herauslesen, was darin steht, so liegt überhaupt die specifisch
philologische aufgabe in dem erfassen einer fremden individualität. es

Wege und ziele der modernen tragikerkritik.
ihre pflicht ungenügend erfüllt hat, ist dieses in seiner bedeutung für die
gesammtentwickelung des volkes allgemein verkannt. es ist nur recht, daſs
die verschiedenen zeiten sich in dem unermeſslichen gebiete der altertums-
wissenschaft verschiedene felder zu bebauen wählen. und so würde es
kein schade gewesen sein, daſs die anregungen, welche Lachmann Ritschl
Mommsen gaben, dem vorher vernachlässigten Römertum gebührende be-
arbeitung zuführten, daſs die monumentale philologie die talente mehr
anzuziehen begann als die schriftstellerkritik — wenn nicht das studium der
attischen tragödie so gut wie das Homers und der beiden fürsten der philo-
sophie für alle seiten hellenischer studien unentbehrlich wäre. aber man
bedenke: das ganze griechische leben wird in den generationen umgestaltet,
mit welchen Sophokles und Euripides leben, während das Athen, das den
Meder schlug, nur durch Aischylos für uns vertreten ist. das Athen,
welches die alte physik und ἱστορία loniens aufnahm und durch die
sophistik sowol die beredsamkeit wie die philosophie vorbereitete, spricht
nur im drama selbst zu uns. jede ernste mythographische forschung
lehrt, daſs der ausgangspunkt im drama liegt, mag man aufwärts zu Homer
oder abwärts zu Nonnus gehen. jede sprachliche forschung bedarf dieses
mittelgliedes zwischen der archaischen rede und der gemeinen Atthis.
wie jede archaeologische forschung auf die architektur, skulptur und
malerei des 5. jahrhunderts als auf das centrum zurückführt, so steht es
fast mit jeder forschung auf jedem gebiete des geistigen lebens. die ganze
griechische poesie culminirt im drama, dessen vorstufen epos und lyrik
sind, das selbst den sokratischen dialog und das menandrische lustspiel
gezeugt hat. die ganze griechische geschichte culminirt im fünften jahr-
hundert. die tragödie ist die poesie des attischen Reiches: das sagt
genugsam, daſs kein geschichtliches erfassen des Hellenentums an dem
drama vorbeigehen darf, und daſs der zustand die schwersten folgen haben
muſste, in dem wir leben, wo Euripides keinen andersartigen wert für
den historiker zu haben scheint als etwa Anakreon oder Aratos.

So hohe forderungen erhebt die philologie als geschichtliche wissen-
schaft. und sie ist doch selbst auch noch etwas anderes. sonst würde es
genügen ein buch über das drama zu schreiben, nicht einen commentar zu
einem einzelnen stücke, zumal dies viel mühsamer ist. es kommt vielmehr
darauf an, daſs der alte dichter zu worte komme, nicht ein moderner pro-
fessor. wie wir unser geschäft nur dann recht besorgen, wenn wir in jedes
alte buch, das wir unter den händen haben, nicht unsern geist hineintragen,
sondern das herauslesen, was darin steht, so liegt überhaupt die specifisch
philologische aufgabe in dem erfassen einer fremden individualität. es

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[256/0276] Wege und ziele der modernen tragikerkritik. ihre pflicht ungenügend erfüllt hat, ist dieses in seiner bedeutung für die gesammtentwickelung des volkes allgemein verkannt. es ist nur recht, daſs die verschiedenen zeiten sich in dem unermeſslichen gebiete der altertums- wissenschaft verschiedene felder zu bebauen wählen. und so würde es kein schade gewesen sein, daſs die anregungen, welche Lachmann Ritschl Mommsen gaben, dem vorher vernachlässigten Römertum gebührende be- arbeitung zuführten, daſs die monumentale philologie die talente mehr anzuziehen begann als die schriftstellerkritik — wenn nicht das studium der attischen tragödie so gut wie das Homers und der beiden fürsten der philo- sophie für alle seiten hellenischer studien unentbehrlich wäre. aber man bedenke: das ganze griechische leben wird in den generationen umgestaltet, mit welchen Sophokles und Euripides leben, während das Athen, das den Meder schlug, nur durch Aischylos für uns vertreten ist. das Athen, welches die alte physik und ἱστορία loniens aufnahm und durch die sophistik sowol die beredsamkeit wie die philosophie vorbereitete, spricht nur im drama selbst zu uns. jede ernste mythographische forschung lehrt, daſs der ausgangspunkt im drama liegt, mag man aufwärts zu Homer oder abwärts zu Nonnus gehen. jede sprachliche forschung bedarf dieses mittelgliedes zwischen der archaischen rede und der gemeinen Atthis. wie jede archaeologische forschung auf die architektur, skulptur und malerei des 5. jahrhunderts als auf das centrum zurückführt, so steht es fast mit jeder forschung auf jedem gebiete des geistigen lebens. die ganze griechische poesie culminirt im drama, dessen vorstufen epos und lyrik sind, das selbst den sokratischen dialog und das menandrische lustspiel gezeugt hat. die ganze griechische geschichte culminirt im fünften jahr- hundert. die tragödie ist die poesie des attischen Reiches: das sagt genugsam, daſs kein geschichtliches erfassen des Hellenentums an dem drama vorbeigehen darf, und daſs der zustand die schwersten folgen haben muſste, in dem wir leben, wo Euripides keinen andersartigen wert für den historiker zu haben scheint als etwa Anakreon oder Aratos. So hohe forderungen erhebt die philologie als geschichtliche wissen- schaft. und sie ist doch selbst auch noch etwas anderes. sonst würde es genügen ein buch über das drama zu schreiben, nicht einen commentar zu einem einzelnen stücke, zumal dies viel mühsamer ist. es kommt vielmehr darauf an, daſs der alte dichter zu worte komme, nicht ein moderner pro- fessor. wie wir unser geschäft nur dann recht besorgen, wenn wir in jedes alte buch, das wir unter den händen haben, nicht unsern geist hineintragen, sondern das herauslesen, was darin steht, so liegt überhaupt die specifisch philologische aufgabe in dem erfassen einer fremden individualität. es

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 256. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/276>, abgerufen am 29.03.2024.