Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

Bild:
<< vorherige Seite

A. Nauck. recensio.
hat diese decennien hindurch der kritiker wie die meisten griechischen
texte so ganz besonders die der tragiker behandelt, welchem heute
kein billig denkender den ersten platz als kenner des griechischen ver-
sagen sollte: August Nauck. im gegensatze zu Hermann durchaus ana-
logetiker hat er die lehren der Engländer in Deutschland erst recht
zur anerkennung gebracht und selbst in ihrem sinne weitergearbeitet.
seine sammlung der tragischen bruchstücke ist das unerreichte muster
einer fragmentsammlung: der keim, den Valckenaer gelegt, ist zu einem
stattlichen baume ausgewachsen. durch seine emendatorische tätig-
keit endlich hat Nauck unter den Euripideskritikern einen platz in der
ersten reihe, unter denen des Sophokles überhaupt den ersten errungen,
wenn man nur das gelungene zählt. dass er daneben seiner zeit den
tribut gezahlt hat, eine unübersehbare masse nicht bloss des überflüssigen,
sondern des wildwillkürlichen, leider auch recht oft des trivialen und
selbst des inepten hervorzubringen oder doch zu billigen, das darf die
schätzung des wertvollen nicht herabstimmen, wenn es auch nur gerecht
war, dass der kampf wider die ausschreitungen der kritik sich ihn zum
ziele nahm, und wenn es auch mindestens verzeihlich ist, dass mancher
der besten gerade gegen Nauck selbst ungerecht geworden ist, zumal
sein vorbild nach der schlimmen seite auch deshalb besonders ver-
wirrend wirken musste, weil auf ihn die ganze richtung der philologie,
die von Welcker und O. Müller ausgeht, wenig gewirkt hat.

Naucks den zeitgenossen überlegene stellung kann man schon daranRecensio.
ermessen, dass er fast allein sich von den modeirrtümern so gut wie frei
gehalten hat, welche in betreff der textquellen der tragiker um sich griffen.
Hermann gegenüber war es ein fortschritt, dass man überhaupt die
recensio ernst nahm, allein eigentlich ohne beweis, lediglich durch macht-
sprüche bedeutender oder doch tonangebender männer, brach sich nun
der glaube bahn, dass Aischylos und Sophokles einzig im Laurentianus 32,9
überliefert wären. im Aristophanes hielt sich selbst Meineke nicht von
einseitiger bevorzugung des Ravennas frei. für Euripides war seit Elmsley
nichts geschehen. da war es denn eine rechte leistung in Lachmanns
sinne und seiner auch in jeder beziehung würdig, als Adolf Kirchhoff
zuerst 1852 in den specialausgaben der Medea und der Troades aus dem
chaos ungeordneter varianten die wirklichen träger der überlieferung
herausfand; seine grosse ausgabe führte dann mit reicherem aber leider
doch noch sehr unvollständigem materiale dieselben grundsätze durch
und verwarf mit entschiedenster consequenz die seit der Aldina vor-
herrschende s. g. zweite classe. das war wirkliche methode, die schon

A. Nauck. recensio.
hat diese decennien hindurch der kritiker wie die meisten griechischen
texte so ganz besonders die der tragiker behandelt, welchem heute
kein billig denkender den ersten platz als kenner des griechischen ver-
sagen sollte: August Nauck. im gegensatze zu Hermann durchaus ana-
logetiker hat er die lehren der Engländer in Deutschland erst recht
zur anerkennung gebracht und selbst in ihrem sinne weitergearbeitet.
seine sammlung der tragischen bruchstücke ist das unerreichte muster
einer fragmentsammlung: der keim, den Valckenaer gelegt, ist zu einem
stattlichen baume ausgewachsen. durch seine emendatorische tätig-
keit endlich hat Nauck unter den Euripideskritikern einen platz in der
ersten reihe, unter denen des Sophokles überhaupt den ersten errungen,
wenn man nur das gelungene zählt. daſs er daneben seiner zeit den
tribut gezahlt hat, eine unübersehbare masse nicht bloſs des überflüssigen,
sondern des wildwillkürlichen, leider auch recht oft des trivialen und
selbst des inepten hervorzubringen oder doch zu billigen, das darf die
schätzung des wertvollen nicht herabstimmen, wenn es auch nur gerecht
war, daſs der kampf wider die ausschreitungen der kritik sich ihn zum
ziele nahm, und wenn es auch mindestens verzeihlich ist, daſs mancher
der besten gerade gegen Nauck selbst ungerecht geworden ist, zumal
sein vorbild nach der schlimmen seite auch deshalb besonders ver-
wirrend wirken muſste, weil auf ihn die ganze richtung der philologie,
die von Welcker und O. Müller ausgeht, wenig gewirkt hat.

Naucks den zeitgenossen überlegene stellung kann man schon daranRecensio.
ermessen, daſs er fast allein sich von den modeirrtümern so gut wie frei
gehalten hat, welche in betreff der textquellen der tragiker um sich griffen.
Hermann gegenüber war es ein fortschritt, daſs man überhaupt die
recensio ernst nahm, allein eigentlich ohne beweis, lediglich durch macht-
sprüche bedeutender oder doch tonangebender männer, brach sich nun
der glaube bahn, daſs Aischylos und Sophokles einzig im Laurentianus 32,9
überliefert wären. im Aristophanes hielt sich selbst Meineke nicht von
einseitiger bevorzugung des Ravennas frei. für Euripides war seit Elmsley
nichts geschehen. da war es denn eine rechte leistung in Lachmanns
sinne und seiner auch in jeder beziehung würdig, als Adolf Kirchhoff
zuerst 1852 in den specialausgaben der Medea und der Troades aus dem
chaos ungeordneter varianten die wirklichen träger der überlieferung
herausfand; seine groſse ausgabe führte dann mit reicherem aber leider
doch noch sehr unvollständigem materiale dieselben grundsätze durch
und verwarf mit entschiedenster consequenz die seit der Aldina vor-
herrschende s. g. zweite classe. das war wirkliche methode, die schon

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0271" n="251"/><fw place="top" type="header">A. Nauck. recensio.</fw><lb/>
hat diese decennien hindurch der kritiker wie die meisten griechischen<lb/>
texte so ganz besonders die der tragiker behandelt, welchem heute<lb/>
kein billig denkender den ersten platz als kenner des griechischen ver-<lb/>
sagen sollte: August Nauck. im gegensatze zu Hermann durchaus ana-<lb/>
logetiker hat er die lehren der Engländer in Deutschland erst recht<lb/>
zur anerkennung gebracht und selbst in ihrem sinne weitergearbeitet.<lb/>
seine sammlung der tragischen bruchstücke ist das unerreichte muster<lb/>
einer fragmentsammlung: der keim, den Valckenaer gelegt, ist zu einem<lb/>
stattlichen baume ausgewachsen. durch seine emendatorische tätig-<lb/>
keit endlich hat Nauck unter den Euripideskritikern einen platz in der<lb/>
ersten reihe, unter denen des Sophokles überhaupt den ersten errungen,<lb/>
wenn man nur das gelungene zählt. da&#x017F;s er daneben seiner zeit den<lb/>
tribut gezahlt hat, eine unübersehbare masse nicht blo&#x017F;s des überflüssigen,<lb/>
sondern des wildwillkürlichen, leider auch recht oft des trivialen und<lb/>
selbst des inepten hervorzubringen oder doch zu billigen, das darf die<lb/>
schätzung des wertvollen nicht herabstimmen, wenn es auch nur gerecht<lb/>
war, da&#x017F;s der kampf wider die ausschreitungen der kritik sich ihn zum<lb/>
ziele nahm, und wenn es auch mindestens verzeihlich ist, da&#x017F;s mancher<lb/>
der besten gerade gegen Nauck selbst ungerecht geworden ist, zumal<lb/>
sein vorbild nach der schlimmen seite auch deshalb besonders ver-<lb/>
wirrend wirken mu&#x017F;ste, weil auf ihn die ganze richtung der philologie,<lb/>
die von Welcker und O. Müller ausgeht, wenig gewirkt hat.</p><lb/>
        <p>Naucks den zeitgenossen überlegene stellung kann man schon daran<note place="right">Recensio.</note><lb/>
ermessen, da&#x017F;s er fast allein sich von den modeirrtümern so gut wie frei<lb/>
gehalten hat, welche in betreff der textquellen der tragiker um sich griffen.<lb/>
Hermann gegenüber war es ein fortschritt, da&#x017F;s man überhaupt die<lb/>
recensio ernst nahm, allein eigentlich ohne beweis, lediglich durch macht-<lb/>
sprüche bedeutender oder doch tonangebender männer, brach sich nun<lb/>
der glaube bahn, da&#x017F;s Aischylos und Sophokles einzig im Laurentianus 32,9<lb/>
überliefert wären. im Aristophanes hielt sich selbst Meineke nicht von<lb/>
einseitiger bevorzugung des Ravennas frei. für Euripides war seit Elmsley<lb/>
nichts geschehen. da war es denn eine rechte leistung in Lachmanns<lb/>
sinne und seiner auch in jeder beziehung würdig, als Adolf Kirchhoff<lb/>
zuerst 1852 in den specialausgaben der Medea und der Troades aus dem<lb/>
chaos ungeordneter varianten die wirklichen träger der überlieferung<lb/>
herausfand; seine gro&#x017F;se ausgabe führte dann mit reicherem aber leider<lb/>
doch noch sehr unvollständigem materiale dieselben grundsätze durch<lb/>
und verwarf mit entschiedenster consequenz die seit der Aldina vor-<lb/>
herrschende s. g. zweite classe. das war wirkliche methode, die schon<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[251/0271] A. Nauck. recensio. hat diese decennien hindurch der kritiker wie die meisten griechischen texte so ganz besonders die der tragiker behandelt, welchem heute kein billig denkender den ersten platz als kenner des griechischen ver- sagen sollte: August Nauck. im gegensatze zu Hermann durchaus ana- logetiker hat er die lehren der Engländer in Deutschland erst recht zur anerkennung gebracht und selbst in ihrem sinne weitergearbeitet. seine sammlung der tragischen bruchstücke ist das unerreichte muster einer fragmentsammlung: der keim, den Valckenaer gelegt, ist zu einem stattlichen baume ausgewachsen. durch seine emendatorische tätig- keit endlich hat Nauck unter den Euripideskritikern einen platz in der ersten reihe, unter denen des Sophokles überhaupt den ersten errungen, wenn man nur das gelungene zählt. daſs er daneben seiner zeit den tribut gezahlt hat, eine unübersehbare masse nicht bloſs des überflüssigen, sondern des wildwillkürlichen, leider auch recht oft des trivialen und selbst des inepten hervorzubringen oder doch zu billigen, das darf die schätzung des wertvollen nicht herabstimmen, wenn es auch nur gerecht war, daſs der kampf wider die ausschreitungen der kritik sich ihn zum ziele nahm, und wenn es auch mindestens verzeihlich ist, daſs mancher der besten gerade gegen Nauck selbst ungerecht geworden ist, zumal sein vorbild nach der schlimmen seite auch deshalb besonders ver- wirrend wirken muſste, weil auf ihn die ganze richtung der philologie, die von Welcker und O. Müller ausgeht, wenig gewirkt hat. Naucks den zeitgenossen überlegene stellung kann man schon daran ermessen, daſs er fast allein sich von den modeirrtümern so gut wie frei gehalten hat, welche in betreff der textquellen der tragiker um sich griffen. Hermann gegenüber war es ein fortschritt, daſs man überhaupt die recensio ernst nahm, allein eigentlich ohne beweis, lediglich durch macht- sprüche bedeutender oder doch tonangebender männer, brach sich nun der glaube bahn, daſs Aischylos und Sophokles einzig im Laurentianus 32,9 überliefert wären. im Aristophanes hielt sich selbst Meineke nicht von einseitiger bevorzugung des Ravennas frei. für Euripides war seit Elmsley nichts geschehen. da war es denn eine rechte leistung in Lachmanns sinne und seiner auch in jeder beziehung würdig, als Adolf Kirchhoff zuerst 1852 in den specialausgaben der Medea und der Troades aus dem chaos ungeordneter varianten die wirklichen träger der überlieferung herausfand; seine groſse ausgabe führte dann mit reicherem aber leider doch noch sehr unvollständigem materiale dieselben grundsätze durch und verwarf mit entschiedenster consequenz die seit der Aldina vor- herrschende s. g. zweite classe. das war wirkliche methode, die schon Recensio.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/271
Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 251. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/271>, abgerufen am 29.03.2024.