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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Wege und ziele der modernen tragikerkritik.
werks ist mehr wert als das ideenlose herumklauben an tausend einzel-
heiten und die kleinmeisterei kaltsinniger logik an den erzeugnissen der
phantasie.

Aber es sind und bleiben doch verirrungen, und weil sie es sind,
können sie nicht dauern. der principielle widerspruch, der nicht aus-
geblieben ist, konnte ihnen wenig anhaben, denn alle diese erhabenen
dinge existiren ja durch petitio principii. aber deshalb leiden sie schiff-
bruch, sobald sie praktisch angewandt werden. die gedanken die im
kopfe leicht bei einander wohnen, stossen hart an, so bald sie einen
körper gewinnen wollen. der gläubige wird freilich nicht irre, wenn
die tatsachen mit den postulaten seiner lehre sich nicht vertragen, seiner
erfindsamkeit wird eine ausrede nimmer fehlen 17); aber der glaube ver-
breitet sich doch nicht weiter und erlischt allmählich. die vereinigung
von schrankenlosem zweifel an dem überlieferten und schrankenlosem
glauben an die moderne theorie, wurzelnd in einer abkehr von dem con-
creten und einem sehnen nach dem absoluten, ist eben ein charakteris-
tischer zug für die geistige stimmung der generation die hinter uns liegt.
die nächstlebende ist anders disponirt, sie ist für diese krankheiten nicht
empfänglich, darum aber auch am wenigsten im stande, gerecht und
abschliessend über jene zu urteilen. wes geistige entwickelungsperiode
1866 einschliesst, der kann sich ja auch nicht vorstellen, dass die männer,
zu denen er dankbar ausschaut, Gutzkow überhaupt haben lesen können,
Freiligrath ohne lachen, Börne ohne ekel auf die dauer lesen, Buckle für
einen grossen geschichtsphilosophen, Kaulbach für einen grossen maler
haben halten können. wir täuschen uns hoffentlich nicht darüber, dass
wir der kommenden generation ähnliche rätsel aufgeben werden. aber
überwunden ist jene fülle von theoremen so gut wie die conjecturale
änderungswut. mag noch das eine oder andere nachgeboren werden,
mögen gewisse kreise sich darin gefallen, die gedichte des Pindaros
Aristophanes Kallimachos zu schematisiren statt zu verstehen: es sind
anachronismen.

A. Nauck.

Ziehen wir nun das facit, so fällt das freilich traurig aus. der positive
ertrag der tragikerstudien ist ein geringer nicht bloss im verhältnis zu
der aufgewandten arbeit. ganz fehlt es nicht daran. was vereinzelt dem
oder jenem gelungen ist, fällt freilich nicht ins gewicht: aber allerdings

17) Ein beispiel: die zahlenspielerei glaubte Heimsöth ad absurdum zu führen,
indem er zeigte, dass man am Wallenstein ebenso gut spielen könnte. der glaube
bringt es fertig, dies als beweis zu verwenden, indem die zahl auch Schiller beherrscht
habe, wenn auch ohne dass er sich dessen bewusst gewesen wäre.

Wege und ziele der modernen tragikerkritik.
werks ist mehr wert als das ideenlose herumklauben an tausend einzel-
heiten und die kleinmeisterei kaltsinniger logik an den erzeugnissen der
phantasie.

Aber es sind und bleiben doch verirrungen, und weil sie es sind,
können sie nicht dauern. der principielle widerspruch, der nicht aus-
geblieben ist, konnte ihnen wenig anhaben, denn alle diese erhabenen
dinge existiren ja durch petitio principii. aber deshalb leiden sie schiff-
bruch, sobald sie praktisch angewandt werden. die gedanken die im
kopfe leicht bei einander wohnen, stoſsen hart an, so bald sie einen
körper gewinnen wollen. der gläubige wird freilich nicht irre, wenn
die tatsachen mit den postulaten seiner lehre sich nicht vertragen, seiner
erfindsamkeit wird eine ausrede nimmer fehlen 17); aber der glaube ver-
breitet sich doch nicht weiter und erlischt allmählich. die vereinigung
von schrankenlosem zweifel an dem überlieferten und schrankenlosem
glauben an die moderne theorie, wurzelnd in einer abkehr von dem con-
creten und einem sehnen nach dem absoluten, ist eben ein charakteris-
tischer zug für die geistige stimmung der generation die hinter uns liegt.
die nächstlebende ist anders disponirt, sie ist für diese krankheiten nicht
empfänglich, darum aber auch am wenigsten im stande, gerecht und
abschlieſsend über jene zu urteilen. wes geistige entwickelungsperiode
1866 einschlieſst, der kann sich ja auch nicht vorstellen, daſs die männer,
zu denen er dankbar auſschaut, Gutzkow überhaupt haben lesen können,
Freiligrath ohne lachen, Börne ohne ekel auf die dauer lesen, Buckle für
einen groſsen geschichtsphilosophen, Kaulbach für einen groſsen maler
haben halten können. wir täuschen uns hoffentlich nicht darüber, daſs
wir der kommenden generation ähnliche rätsel aufgeben werden. aber
überwunden ist jene fülle von theoremen so gut wie die conjecturale
änderungswut. mag noch das eine oder andere nachgeboren werden,
mögen gewisse kreise sich darin gefallen, die gedichte des Pindaros
Aristophanes Kallimachos zu schematisiren statt zu verstehen: es sind
anachronismen.

A. Nauck.

Ziehen wir nun das facit, so fällt das freilich traurig aus. der positive
ertrag der tragikerstudien ist ein geringer nicht bloſs im verhältnis zu
der aufgewandten arbeit. ganz fehlt es nicht daran. was vereinzelt dem
oder jenem gelungen ist, fällt freilich nicht ins gewicht: aber allerdings

17) Ein beispiel: die zahlenspielerei glaubte Heimsöth ad absurdum zu führen,
indem er zeigte, daſs man am Wallenstein ebenso gut spielen könnte. der glaube
bringt es fertig, dies als beweis zu verwenden, indem die zahl auch Schiller beherrscht
habe, wenn auch ohne daſs er sich dessen bewuſst gewesen wäre.
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[250/0270] Wege und ziele der modernen tragikerkritik. werks ist mehr wert als das ideenlose herumklauben an tausend einzel- heiten und die kleinmeisterei kaltsinniger logik an den erzeugnissen der phantasie. Aber es sind und bleiben doch verirrungen, und weil sie es sind, können sie nicht dauern. der principielle widerspruch, der nicht aus- geblieben ist, konnte ihnen wenig anhaben, denn alle diese erhabenen dinge existiren ja durch petitio principii. aber deshalb leiden sie schiff- bruch, sobald sie praktisch angewandt werden. die gedanken die im kopfe leicht bei einander wohnen, stoſsen hart an, so bald sie einen körper gewinnen wollen. der gläubige wird freilich nicht irre, wenn die tatsachen mit den postulaten seiner lehre sich nicht vertragen, seiner erfindsamkeit wird eine ausrede nimmer fehlen 17); aber der glaube ver- breitet sich doch nicht weiter und erlischt allmählich. die vereinigung von schrankenlosem zweifel an dem überlieferten und schrankenlosem glauben an die moderne theorie, wurzelnd in einer abkehr von dem con- creten und einem sehnen nach dem absoluten, ist eben ein charakteris- tischer zug für die geistige stimmung der generation die hinter uns liegt. die nächstlebende ist anders disponirt, sie ist für diese krankheiten nicht empfänglich, darum aber auch am wenigsten im stande, gerecht und abschlieſsend über jene zu urteilen. wes geistige entwickelungsperiode 1866 einschlieſst, der kann sich ja auch nicht vorstellen, daſs die männer, zu denen er dankbar auſschaut, Gutzkow überhaupt haben lesen können, Freiligrath ohne lachen, Börne ohne ekel auf die dauer lesen, Buckle für einen groſsen geschichtsphilosophen, Kaulbach für einen groſsen maler haben halten können. wir täuschen uns hoffentlich nicht darüber, daſs wir der kommenden generation ähnliche rätsel aufgeben werden. aber überwunden ist jene fülle von theoremen so gut wie die conjecturale änderungswut. mag noch das eine oder andere nachgeboren werden, mögen gewisse kreise sich darin gefallen, die gedichte des Pindaros Aristophanes Kallimachos zu schematisiren statt zu verstehen: es sind anachronismen. Ziehen wir nun das facit, so fällt das freilich traurig aus. der positive ertrag der tragikerstudien ist ein geringer nicht bloſs im verhältnis zu der aufgewandten arbeit. ganz fehlt es nicht daran. was vereinzelt dem oder jenem gelungen ist, fällt freilich nicht ins gewicht: aber allerdings 17) Ein beispiel: die zahlenspielerei glaubte Heimsöth ad absurdum zu führen, indem er zeigte, daſs man am Wallenstein ebenso gut spielen könnte. der glaube bringt es fertig, dies als beweis zu verwenden, indem die zahl auch Schiller beherrscht habe, wenn auch ohne daſs er sich dessen bewuſst gewesen wäre.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 250. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/270>, abgerufen am 25.04.2024.