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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Wege und ziele der modernen tragikerkritik.
25 jahren vermochte Haupt wol den bannstrahl wider die verkehrtheiten
zu schleudern, aber neue ziele wusste er nicht zu zeigen. und worin
zeigte sich die unfruchtbarkeit einer periode deutlicher, als wenn die,
welche die fahne vorantragen sollten, nur abkehr und umkehr predigen.
dann sind die andern persönlich entschuldigt, welche einem rufe auch auf
abwege folgen, der sie zu neuen herrlichen zielen zu weisen verspricht.
und solche rufe wurden und werden freilich zahlreich erhoben, mag auch
der glaube den sie finden minder vertrauensselig geworden sein.

Jene zeit des schrankenlosen subjectivismus und der zertrümmerung,
ja zerfaserung der überlieferten kunstwerke zeigt gleichzeitig einen fast
mystischen zug zum abstracten construiren und eine überraschende leicht-
gläubigkeit gegen die hirngespinnste der mitlebenden. nichts altes respec-
tirte diese im vollgefühle moderner überlegenheit stolzirende kühnheit:
und doch war sie geschäftig, gesetze zu entdecken und der überlieferung
aufzuzwingen. eine tausendjährige tradition wog ihr federleicht vor dem
gesetze von ehegestern. es galt das weit über die kreise der tragikerkritik,
ja der kritik überhaupt hinaus. man erinnere sich, dass ein tektonisches
system fast in allen für griechische baukunst empfänglichen kreisen
die herrschaft errang, welches jedes geschichtliche begreifen vor der
construction a priori zurücktreten liess und die kühnheit so wenig wie
unsere interpolationssucher entbehrte, die tatsachen der überlieferung,
z. b. die entasis des Parthenonstylobates, lediglich durch den modernen
willen zu beseitigen. wir haben die auguraldisciplin wieder aufleben
sehen und den himmel in quartiere teilen, auch den griechischen, und
die tempel nach den geburtstagen der götter orientiren sehen -- die
ohne oder auch wider die überlieferung gefunden wurden. auf dem
gebiete der grammatik steht der kampf zwischen geschichtlicher betrach-
tung, dumpfem traditionsglauben und neuen täglich wechselnden aus-
nahmslosen gesetzen noch in voller hitze. eine neue metrik oder, was
vornehmer klingt, rhythmik ist ersonnen, aufgebaut auf angeblich ewige
d. h. moderne musicalische principien, angehängt an einen geduldigen
namen von altberühmtem klange, ausgestattet mit einer volltönenden fremd-
artigen terminologie und dem anspruche auf ein tieferes kunstverständnis;
die concrete aufgabe der textgestaltung war so hohen strebungen zu
untergeordnet, und die neue weisheit allerdings vage genug, sich mit den
auf ganz andern principien aufgebauten texten Hermannischer zeit leidlich
zu vertragen. wieder ein anderer berühmter name, aus altersgrauer ver-
gangenheit, ist aufgegriffen, zum träger eines systems gemacht, welches
in überraschender weise den schlüssel zu der composition elegischer

Wege und ziele der modernen tragikerkritik.
25 jahren vermochte Haupt wol den bannstrahl wider die verkehrtheiten
zu schleudern, aber neue ziele wuſste er nicht zu zeigen. und worin
zeigte sich die unfruchtbarkeit einer periode deutlicher, als wenn die,
welche die fahne vorantragen sollten, nur abkehr und umkehr predigen.
dann sind die andern persönlich entschuldigt, welche einem rufe auch auf
abwege folgen, der sie zu neuen herrlichen zielen zu weisen verspricht.
und solche rufe wurden und werden freilich zahlreich erhoben, mag auch
der glaube den sie finden minder vertrauensselig geworden sein.

Jene zeit des schrankenlosen subjectivismus und der zertrümmerung,
ja zerfaserung der überlieferten kunstwerke zeigt gleichzeitig einen fast
mystischen zug zum abstracten construiren und eine überraschende leicht-
gläubigkeit gegen die hirngespinnste der mitlebenden. nichts altes respec-
tirte diese im vollgefühle moderner überlegenheit stolzirende kühnheit:
und doch war sie geschäftig, gesetze zu entdecken und der überlieferung
aufzuzwingen. eine tausendjährige tradition wog ihr federleicht vor dem
gesetze von ehegestern. es galt das weit über die kreise der tragikerkritik,
ja der kritik überhaupt hinaus. man erinnere sich, daſs ein tektonisches
system fast in allen für griechische baukunst empfänglichen kreisen
die herrschaft errang, welches jedes geschichtliche begreifen vor der
construction a priori zurücktreten lieſs und die kühnheit so wenig wie
unsere interpolationssucher entbehrte, die tatsachen der überlieferung,
z. b. die entasis des Parthenonstylobates, lediglich durch den modernen
willen zu beseitigen. wir haben die auguraldisciplin wieder aufleben
sehen und den himmel in quartiere teilen, auch den griechischen, und
die tempel nach den geburtstagen der götter orientiren sehen — die
ohne oder auch wider die überlieferung gefunden wurden. auf dem
gebiete der grammatik steht der kampf zwischen geschichtlicher betrach-
tung, dumpfem traditionsglauben und neuen täglich wechselnden aus-
nahmslosen gesetzen noch in voller hitze. eine neue metrik oder, was
vornehmer klingt, rhythmik ist ersonnen, aufgebaut auf angeblich ewige
d. h. moderne musicalische principien, angehängt an einen geduldigen
namen von altberühmtem klange, ausgestattet mit einer volltönenden fremd-
artigen terminologie und dem anspruche auf ein tieferes kunstverständnis;
die concrete aufgabe der textgestaltung war so hohen strebungen zu
untergeordnet, und die neue weisheit allerdings vage genug, sich mit den
auf ganz andern principien aufgebauten texten Hermannischer zeit leidlich
zu vertragen. wieder ein anderer berühmter name, aus altersgrauer ver-
gangenheit, ist aufgegriffen, zum träger eines systems gemacht, welches
in überraschender weise den schlüssel zu der composition elegischer

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[248/0268] Wege und ziele der modernen tragikerkritik. 25 jahren vermochte Haupt wol den bannstrahl wider die verkehrtheiten zu schleudern, aber neue ziele wuſste er nicht zu zeigen. und worin zeigte sich die unfruchtbarkeit einer periode deutlicher, als wenn die, welche die fahne vorantragen sollten, nur abkehr und umkehr predigen. dann sind die andern persönlich entschuldigt, welche einem rufe auch auf abwege folgen, der sie zu neuen herrlichen zielen zu weisen verspricht. und solche rufe wurden und werden freilich zahlreich erhoben, mag auch der glaube den sie finden minder vertrauensselig geworden sein. Jene zeit des schrankenlosen subjectivismus und der zertrümmerung, ja zerfaserung der überlieferten kunstwerke zeigt gleichzeitig einen fast mystischen zug zum abstracten construiren und eine überraschende leicht- gläubigkeit gegen die hirngespinnste der mitlebenden. nichts altes respec- tirte diese im vollgefühle moderner überlegenheit stolzirende kühnheit: und doch war sie geschäftig, gesetze zu entdecken und der überlieferung aufzuzwingen. eine tausendjährige tradition wog ihr federleicht vor dem gesetze von ehegestern. es galt das weit über die kreise der tragikerkritik, ja der kritik überhaupt hinaus. man erinnere sich, daſs ein tektonisches system fast in allen für griechische baukunst empfänglichen kreisen die herrschaft errang, welches jedes geschichtliche begreifen vor der construction a priori zurücktreten lieſs und die kühnheit so wenig wie unsere interpolationssucher entbehrte, die tatsachen der überlieferung, z. b. die entasis des Parthenonstylobates, lediglich durch den modernen willen zu beseitigen. wir haben die auguraldisciplin wieder aufleben sehen und den himmel in quartiere teilen, auch den griechischen, und die tempel nach den geburtstagen der götter orientiren sehen — die ohne oder auch wider die überlieferung gefunden wurden. auf dem gebiete der grammatik steht der kampf zwischen geschichtlicher betrach- tung, dumpfem traditionsglauben und neuen täglich wechselnden aus- nahmslosen gesetzen noch in voller hitze. eine neue metrik oder, was vornehmer klingt, rhythmik ist ersonnen, aufgebaut auf angeblich ewige d. h. moderne musicalische principien, angehängt an einen geduldigen namen von altberühmtem klange, ausgestattet mit einer volltönenden fremd- artigen terminologie und dem anspruche auf ein tieferes kunstverständnis; die concrete aufgabe der textgestaltung war so hohen strebungen zu untergeordnet, und die neue weisheit allerdings vage genug, sich mit den auf ganz andern principien aufgebauten texten Hermannischer zeit leidlich zu vertragen. wieder ein anderer berühmter name, aus altersgrauer ver- gangenheit, ist aufgegriffen, zum träger eines systems gemacht, welches in überraschender weise den schlüssel zu der composition elegischer

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 248. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/268>, abgerufen am 19.04.2024.