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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Wege und ziele der modernen tragikerkritik.
ist das alles erledigt und längst gras darüber gewachsen. notwendig war
es aber auch, dass auf Hermanns eigenstem gebiete, der dichtererklärung,
mehr erstrebt und geleistet würde, als er es tat. es war bezeichnend,
dass selbst von seinen namhaften schülern nur Seidler in seinen trefflichen
Euripidesausgaben genau in die spuren Hermanns trat. Lobeck machte den
commentar zum Aias zu einem stapelplatz für die reichste und erlesenste
grammatische gelehrsamkeit, doch wieder etwas in die holländische weise
einlenkend, so dass der gegenstand der erklärung ihm und dem leser
gänzlich aus den augen kommt, das gedicht als solches überhaupt ver-
gessen ist. ein anderer schüler, der sich freilich früh emancipirte, Reisig,
empfand das bedürfnis einer wirklich in den gegenstand eindringenden
erklärung, kündigte nicht ohne ruhmredigkeit eine neue art commentar
zum Oedipus auf Kolonos an, und gab eine enarratio, die sich zuweilen
in lateinische und deutsche nachdichtung verlor. aber diese verse waren
schlecht, und die leistung im ganzen gering; wie denn auch die metrischen
und sprachlichen finessen, welche Reisig in den attischen dichtern aufzu-
zeigen versucht hat, ziemlich unfruchtbar geblieben sind. in helle flammen
schlug der kampf um die rechte tragikererklärung erst auf, als O. Müller die
Eumeniden griechisch und deutsch erscheinen liess (Göttingen 1833) und
in der vorrede unverblümt zu verstehen gab, dass dies etwas höheres sein
sollte, und dass ihm Hermann das verständnis von gedankenzusammen-
hang und plan irgend eines werkes der alten poesie nicht zu besitzen
scheine. das hiess den handschuh hinwerfen, und dass Hermann keinen
liegen liess, wusste Müller sehr gut. Hermanns verurteilung des Dissenschen
Pindar hatte ihn besonders gereizt, weil Dissen sein wolwollender kränk-
licher furchtsamer lobesbedürftiger und verwöhnter college war, aber den
drang zu einer solchen auseinandersetzung trug er längst im herzen. er
wollte den krieg, er erhielt ihn, aber er ist nicht sieger geblieben. ein
halbes jahrhundert ist seitdem vergangen; es ist an der zeit, nicht zu
gericht zu sitzen, aber wol das verdict zu formuliren, welches akon o
pagkrates khronos gefällt hat. O. Müller verfocht eine gute sache, denn
die wissenschaft kann sich nicht genügen lassen an dem was Hermanns
dichtererklärung leistete. er hat auch in den Eumeniden viel schönes
vorgetragen, was Hermann offenbar nicht zu verstehen wusste; was
hier über blutrache blutsühne blutrecht vorgetragen ist, ist ein grund-
pfeiler geworden für das gebäude hellenischen rechtes und hellenischer
religion, an dem nur wenige fortgebaut haben, niemand glücklicher,
aber dazu brauchte er die Eumeniden nicht herauszugeben, und das hätte
er lassen sollen, einfach weil er es nicht konnte. sein text, seine über-

Wege und ziele der modernen tragikerkritik.
ist das alles erledigt und längst gras darüber gewachsen. notwendig war
es aber auch, daſs auf Hermanns eigenstem gebiete, der dichtererklärung,
mehr erstrebt und geleistet würde, als er es tat. es war bezeichnend,
daſs selbst von seinen namhaften schülern nur Seidler in seinen trefflichen
Euripidesausgaben genau in die spuren Hermanns trat. Lobeck machte den
commentar zum Aias zu einem stapelplatz für die reichste und erlesenste
grammatische gelehrsamkeit, doch wieder etwas in die holländische weise
einlenkend, so daſs der gegenstand der erklärung ihm und dem leser
gänzlich aus den augen kommt, das gedicht als solches überhaupt ver-
gessen ist. ein anderer schüler, der sich freilich früh emancipirte, Reisig,
empfand das bedürfnis einer wirklich in den gegenstand eindringenden
erklärung, kündigte nicht ohne ruhmredigkeit eine neue art commentar
zum Oedipus auf Kolonos an, und gab eine enarratio, die sich zuweilen
in lateinische und deutsche nachdichtung verlor. aber diese verse waren
schlecht, und die leistung im ganzen gering; wie denn auch die metrischen
und sprachlichen finessen, welche Reisig in den attischen dichtern aufzu-
zeigen versucht hat, ziemlich unfruchtbar geblieben sind. in helle flammen
schlug der kampf um die rechte tragikererklärung erst auf, als O. Müller die
Eumeniden griechisch und deutsch erscheinen lieſs (Göttingen 1833) und
in der vorrede unverblümt zu verstehen gab, daſs dies etwas höheres sein
sollte, und daſs ihm Hermann das verständnis von gedankenzusammen-
hang und plan irgend eines werkes der alten poesie nicht zu besitzen
scheine. das hieſs den handschuh hinwerfen, und daſs Hermann keinen
liegen lieſs, wuſste Müller sehr gut. Hermanns verurteilung des Dissenschen
Pindar hatte ihn besonders gereizt, weil Dissen sein wolwollender kränk-
licher furchtsamer lobesbedürftiger und verwöhnter college war, aber den
drang zu einer solchen auseinandersetzung trug er längst im herzen. er
wollte den krieg, er erhielt ihn, aber er ist nicht sieger geblieben. ein
halbes jahrhundert ist seitdem vergangen; es ist an der zeit, nicht zu
gericht zu sitzen, aber wol das verdict zu formuliren, welches ἄκων ὁ
παγκρατὴς χρόνος gefällt hat. O. Müller verfocht eine gute sache, denn
die wissenschaft kann sich nicht genügen lassen an dem was Hermanns
dichtererklärung leistete. er hat auch in den Eumeniden viel schönes
vorgetragen, was Hermann offenbar nicht zu verstehen wuſste; was
hier über blutrache blutsühne blutrecht vorgetragen ist, ist ein grund-
pfeiler geworden für das gebäude hellenischen rechtes und hellenischer
religion, an dem nur wenige fortgebaut haben, niemand glücklicher,
aber dazu brauchte er die Eumeniden nicht herauszugeben, und das hätte
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[242/0262] Wege und ziele der modernen tragikerkritik. ist das alles erledigt und längst gras darüber gewachsen. notwendig war es aber auch, daſs auf Hermanns eigenstem gebiete, der dichtererklärung, mehr erstrebt und geleistet würde, als er es tat. es war bezeichnend, daſs selbst von seinen namhaften schülern nur Seidler in seinen trefflichen Euripidesausgaben genau in die spuren Hermanns trat. Lobeck machte den commentar zum Aias zu einem stapelplatz für die reichste und erlesenste grammatische gelehrsamkeit, doch wieder etwas in die holländische weise einlenkend, so daſs der gegenstand der erklärung ihm und dem leser gänzlich aus den augen kommt, das gedicht als solches überhaupt ver- gessen ist. ein anderer schüler, der sich freilich früh emancipirte, Reisig, empfand das bedürfnis einer wirklich in den gegenstand eindringenden erklärung, kündigte nicht ohne ruhmredigkeit eine neue art commentar zum Oedipus auf Kolonos an, und gab eine enarratio, die sich zuweilen in lateinische und deutsche nachdichtung verlor. aber diese verse waren schlecht, und die leistung im ganzen gering; wie denn auch die metrischen und sprachlichen finessen, welche Reisig in den attischen dichtern aufzu- zeigen versucht hat, ziemlich unfruchtbar geblieben sind. in helle flammen schlug der kampf um die rechte tragikererklärung erst auf, als O. Müller die Eumeniden griechisch und deutsch erscheinen lieſs (Göttingen 1833) und in der vorrede unverblümt zu verstehen gab, daſs dies etwas höheres sein sollte, und daſs ihm Hermann das verständnis von gedankenzusammen- hang und plan irgend eines werkes der alten poesie nicht zu besitzen scheine. das hieſs den handschuh hinwerfen, und daſs Hermann keinen liegen lieſs, wuſste Müller sehr gut. Hermanns verurteilung des Dissenschen Pindar hatte ihn besonders gereizt, weil Dissen sein wolwollender kränk- licher furchtsamer lobesbedürftiger und verwöhnter college war, aber den drang zu einer solchen auseinandersetzung trug er längst im herzen. er wollte den krieg, er erhielt ihn, aber er ist nicht sieger geblieben. ein halbes jahrhundert ist seitdem vergangen; es ist an der zeit, nicht zu gericht zu sitzen, aber wol das verdict zu formuliren, welches ἄκων ὁ παγκρατὴς χρόνος gefällt hat. O. Müller verfocht eine gute sache, denn die wissenschaft kann sich nicht genügen lassen an dem was Hermanns dichtererklärung leistete. er hat auch in den Eumeniden viel schönes vorgetragen, was Hermann offenbar nicht zu verstehen wuſste; was hier über blutrache blutsühne blutrecht vorgetragen ist, ist ein grund- pfeiler geworden für das gebäude hellenischen rechtes und hellenischer religion, an dem nur wenige fortgebaut haben, niemand glücklicher, aber dazu brauchte er die Eumeniden nicht herauszugeben, und das hätte er lassen sollen, einfach weil er es nicht konnte. sein text, seine über-

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 242. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/262>, abgerufen am 28.03.2024.