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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Wege und ziele der modernen tragikerkritik.
schon allein durch die persönlichen beziehungen das in der natur ihres
wesens begründete verhältnis zwischen Goethe und Welcker hätte herbei-
geführt werden müssen. und doch ist dem nicht so. nur als einen ver-
mittler dunkeler speculationen Zoegas hat Goethe Welckern aufgefasst;
er ist ihm als ein genosse Creuzers erschienen, und gegen dieses licht,
das heute längst erloschen unbegreiflicher weise damals seinen qualm
für stralen ausgeben durfte, würde Goethe unwillig die augen geschlossen
haben, auch wenn er nicht mit Hermann in erfrischende persönliche
berührung getreten wäre.

Das verhältnis Welckers zu Goethe ist aber nicht ein zufälliges, sondern
es bat typische bedeutung. Welcker ist bis in die vierziger jahre hinein
eine stimme in der wüste geblieben; selbst die ihm näher zu stehen
schienen, Boeckh Dissen O. Müller, zeigen in wahrheit durchaus nicht
eine gerechte würdigung. I. G. Droysen ist vielleicht der einzige bedeu-
tende mann, der die rechte jünglingsbegeisterung für die aischyleischen
offenbarungen gehabt hat. und es ist erst sehr allmählich anders geworden;
denn äusserliche huldigungen haben geringen wert. als Nauck seine samm-
lung der tragikerbruchstücke machte, konnte er die Welckerschen tragö-
dien und ebenso die arbeiten seiner nachfolger, z. b. O. Jahns, so gut wie
unbeachtet lassen: für die exacte wissenschaft durften träume nicht in
betracht kommen. wenn dies buch also, das unerreichte muster von
gelehrsamkeit und sorgfalt, verfasst von einem manne, der über die schul-
gegensätze und die schulbeschränktheit erhaben ist, über das wirken
Welckers zur tagesordnung übergeht, so liegt es am tage, dass die philo-
logen im engeren sinne Welcker bei seinen lebzeiten überhaupt nicht
gewürdigt haben. eine macht ward er vielmehr erst durch die steigende
bedeutung der archaeologie, obwol er in der erklärung des einzelnen und
auch in der errichtung grossartiger gebäude von vermutungen schwerlich
mehr finderglück hier wie dort gehabt hat. namentlich die neidlose
bewunderung, mit welcher Otto Jahn seinen spuren folgte, hat vielen
jüngeren die augen geöffnet, und es kam bald dahin, dass die phantasie-
bauten des epischen cyclus und der griechischen tragödien von sorg-
loseren erklärern unbesehen an stelle der verlorenen gedichte verwandt
wurden. aber es war etwas besseres als diese trägheit und auch als das
mahnwort eines verständnisvollen lehrers, was die archaeologie empfäng-
licher machte: der gute geist Winckelmanns lebte in ihr, der ihr den
blick für die wechselbeziehung von poesie und bildender kunst mitgegeben
und sie von vorn herein zu einer geschichtlichen wissenschaft gebildet
hatte, was die betrachtung der poesie erst werden sollte, oder vielmehr

Wege und ziele der modernen tragikerkritik.
schon allein durch die persönlichen beziehungen das in der natur ihres
wesens begründete verhältnis zwischen Goethe und Welcker hätte herbei-
geführt werden müssen. und doch ist dem nicht so. nur als einen ver-
mittler dunkeler speculationen Zoegas hat Goethe Welckern aufgefaſst;
er ist ihm als ein genosse Creuzers erschienen, und gegen dieses licht,
das heute längst erloschen unbegreiflicher weise damals seinen qualm
für stralen ausgeben durfte, würde Goethe unwillig die augen geschlossen
haben, auch wenn er nicht mit Hermann in erfrischende persönliche
berührung getreten wäre.

Das verhältnis Welckers zu Goethe ist aber nicht ein zufälliges, sondern
es bat typische bedeutung. Welcker ist bis in die vierziger jahre hinein
eine stimme in der wüste geblieben; selbst die ihm näher zu stehen
schienen, Boeckh Dissen O. Müller, zeigen in wahrheit durchaus nicht
eine gerechte würdigung. I. G. Droysen ist vielleicht der einzige bedeu-
tende mann, der die rechte jünglingsbegeisterung für die aischyleischen
offenbarungen gehabt hat. und es ist erst sehr allmählich anders geworden;
denn äuſserliche huldigungen haben geringen wert. als Nauck seine samm-
lung der tragikerbruchstücke machte, konnte er die Welckerschen tragö-
dien und ebenso die arbeiten seiner nachfolger, z. b. O. Jahns, so gut wie
unbeachtet lassen: für die exacte wissenschaft durften träume nicht in
betracht kommen. wenn dies buch also, das unerreichte muster von
gelehrsamkeit und sorgfalt, verfaſst von einem manne, der über die schul-
gegensätze und die schulbeschränktheit erhaben ist, über das wirken
Welckers zur tagesordnung übergeht, so liegt es am tage, daſs die philo-
logen im engeren sinne Welcker bei seinen lebzeiten überhaupt nicht
gewürdigt haben. eine macht ward er vielmehr erst durch die steigende
bedeutung der archaeologie, obwol er in der erklärung des einzelnen und
auch in der errichtung groſsartiger gebäude von vermutungen schwerlich
mehr finderglück hier wie dort gehabt hat. namentlich die neidlose
bewunderung, mit welcher Otto Jahn seinen spuren folgte, hat vielen
jüngeren die augen geöffnet, und es kam bald dahin, daſs die phantasie-
bauten des epischen cyclus und der griechischen tragödien von sorg-
loseren erklärern unbesehen an stelle der verlorenen gedichte verwandt
wurden. aber es war etwas besseres als diese trägheit und auch als das
mahnwort eines verständnisvollen lehrers, was die archaeologie empfäng-
licher machte: der gute geist Winckelmanns lebte in ihr, der ihr den
blick für die wechselbeziehung von poesie und bildender kunst mitgegeben
und sie von vorn herein zu einer geschichtlichen wissenschaft gebildet
hatte, was die betrachtung der poesie erst werden sollte, oder vielmehr

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[240/0260] Wege und ziele der modernen tragikerkritik. schon allein durch die persönlichen beziehungen das in der natur ihres wesens begründete verhältnis zwischen Goethe und Welcker hätte herbei- geführt werden müssen. und doch ist dem nicht so. nur als einen ver- mittler dunkeler speculationen Zoegas hat Goethe Welckern aufgefaſst; er ist ihm als ein genosse Creuzers erschienen, und gegen dieses licht, das heute längst erloschen unbegreiflicher weise damals seinen qualm für stralen ausgeben durfte, würde Goethe unwillig die augen geschlossen haben, auch wenn er nicht mit Hermann in erfrischende persönliche berührung getreten wäre. Das verhältnis Welckers zu Goethe ist aber nicht ein zufälliges, sondern es bat typische bedeutung. Welcker ist bis in die vierziger jahre hinein eine stimme in der wüste geblieben; selbst die ihm näher zu stehen schienen, Boeckh Dissen O. Müller, zeigen in wahrheit durchaus nicht eine gerechte würdigung. I. G. Droysen ist vielleicht der einzige bedeu- tende mann, der die rechte jünglingsbegeisterung für die aischyleischen offenbarungen gehabt hat. und es ist erst sehr allmählich anders geworden; denn äuſserliche huldigungen haben geringen wert. als Nauck seine samm- lung der tragikerbruchstücke machte, konnte er die Welckerschen tragö- dien und ebenso die arbeiten seiner nachfolger, z. b. O. Jahns, so gut wie unbeachtet lassen: für die exacte wissenschaft durften träume nicht in betracht kommen. wenn dies buch also, das unerreichte muster von gelehrsamkeit und sorgfalt, verfaſst von einem manne, der über die schul- gegensätze und die schulbeschränktheit erhaben ist, über das wirken Welckers zur tagesordnung übergeht, so liegt es am tage, daſs die philo- logen im engeren sinne Welcker bei seinen lebzeiten überhaupt nicht gewürdigt haben. eine macht ward er vielmehr erst durch die steigende bedeutung der archaeologie, obwol er in der erklärung des einzelnen und auch in der errichtung groſsartiger gebäude von vermutungen schwerlich mehr finderglück hier wie dort gehabt hat. namentlich die neidlose bewunderung, mit welcher Otto Jahn seinen spuren folgte, hat vielen jüngeren die augen geöffnet, und es kam bald dahin, daſs die phantasie- bauten des epischen cyclus und der griechischen tragödien von sorg- loseren erklärern unbesehen an stelle der verlorenen gedichte verwandt wurden. aber es war etwas besseres als diese trägheit und auch als das mahnwort eines verständnisvollen lehrers, was die archaeologie empfäng- licher machte: der gute geist Winckelmanns lebte in ihr, der ihr den blick für die wechselbeziehung von poesie und bildender kunst mitgegeben und sie von vorn herein zu einer geschichtlichen wissenschaft gebildet hatte, was die betrachtung der poesie erst werden sollte, oder vielmehr

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 240. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/260>, abgerufen am 24.04.2024.