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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Gottfried Hermann. Welcker.
sein. wenn man sich den kopf wirr gemacht hat, indem man alles ge-
lehrte und verkehrte zeug über eine controverse stelle gelesen hat, und
dann den echten sprachkenner ohne viel federlesens den nagel auf den
kopf treffen sieht; wenn man sich durch irgend einen geistreichen blender
hat fangen lassen, und dann mit einem worte, etwa lediglich durch eine
übersetzung der textworte oder der conjectur, die hohlheit als solche
blossgestellt wird; wenn man etwa im Pindar von der schaumschlägerei
und geheimniskrämerei der exegeten übelkeit empfindet, und sich durch
einen gesunden nüchternen trunk wiederherstellt: dann spürt man den
hauch des hermannischen geistes. und so soll denn jeder an ihm lernen
wie an Aristarch, lernen trotzdem er weiss, dass er nicht auf ihrem stand-
punkt beharren darf, und dass wer das tut, ganz gewiss keinen hauch
von ihrem geiste verspürt, geschweige denn empfangen hat.

Wenn man sich vorstellt, dass jemand in einer kommenden zeitWelcker.
ohne jede kenntnis von den tatsächlichen beziehungen bloss nach dem
eindruck, der von der gesammtleistung der grossen männer bleiben wird,
eine vermutung wagen sollte, ob Hermann oder Welcker eine nahe be-
ziehung zu Goethe gehabt hätte, der würde wol ohne zaudern Welcker
nennen. denn wenn wir Goethe an der hellenischen sage fortdichten
sehen, mit der freiheit aber auch mit dem innerlichen verständnis und
der congenialität der attischen tragiker, so ist es Welcker gewesen, der
das verhältnis bewusster freiheit und unbewusster gebundenheit, in welchem
der künstler zu dem volkstümlichen lebendigen stoffe steht (der also mehr
als stoff ist), erkennen gelehrt hat. wir sehen denn auch, dass wol Welcker,
aber nicht dass Hermann für Goethes Pandora das rechte verständnis hat.
Goethes Winckelmann stellte den eros ktistes der geschichtlichen alter-
tumswissenschaft in seiner überwältigenden grösse einem geschlechte vor,
das seiner zumeist vergass. Welcker ist es, der mehr als irgend ein
anderer die gesammtleistung Winckelmanns fortgesetzt und weitergebildet
hat. Goethes Winckelmann ist die erste biographie in hohem stile, welche
das wirken des individuums sowol als individuelles wie auch als eines
gliedes in der allgemeinen culturentwickelung zur anschauung bringt.
Welcker hat es geleistet, manche persönlichkeit, die als individuum schatten-
haft bleibt, wiederherzustellen, indem er ihren platz in der gesammt-
entwickelung aufzeigte und danach ihre bedeutung schätzen lehrte. die
weltanschauung, welche Goethe um die wende des jahrhunderts in sich
vollkommen ausgebildet hatte, hat schwerlich jemand so rein aufgefasst
wie Wilhelm von Humboldt, und dieser wieder hat durch sie Welckers
wissenschaftlichem streben die weihe gegeben. man sollte meinen, dass

Gottfried Hermann. Welcker.
sein. wenn man sich den kopf wirr gemacht hat, indem man alles ge-
lehrte und verkehrte zeug über eine controverse stelle gelesen hat, und
dann den echten sprachkenner ohne viel federlesens den nagel auf den
kopf treffen sieht; wenn man sich durch irgend einen geistreichen blender
hat fangen lassen, und dann mit einem worte, etwa lediglich durch eine
übersetzung der textworte oder der conjectur, die hohlheit als solche
bloſsgestellt wird; wenn man etwa im Pindar von der schaumschlägerei
und geheimniskrämerei der exegeten übelkeit empfindet, und sich durch
einen gesunden nüchternen trunk wiederherstellt: dann spürt man den
hauch des hermannischen geistes. und so soll denn jeder an ihm lernen
wie an Aristarch, lernen trotzdem er weiſs, daſs er nicht auf ihrem stand-
punkt beharren darf, und daſs wer das tut, ganz gewiſs keinen hauch
von ihrem geiste verspürt, geschweige denn empfangen hat.

Wenn man sich vorstellt, daſs jemand in einer kommenden zeitWelcker.
ohne jede kenntnis von den tatsächlichen beziehungen bloſs nach dem
eindruck, der von der gesammtleistung der groſsen männer bleiben wird,
eine vermutung wagen sollte, ob Hermann oder Welcker eine nahe be-
ziehung zu Goethe gehabt hätte, der würde wol ohne zaudern Welcker
nennen. denn wenn wir Goethe an der hellenischen sage fortdichten
sehen, mit der freiheit aber auch mit dem innerlichen verständnis und
der congenialität der attischen tragiker, so ist es Welcker gewesen, der
das verhältnis bewuſster freiheit und unbewuſster gebundenheit, in welchem
der künstler zu dem volkstümlichen lebendigen stoffe steht (der also mehr
als stoff ist), erkennen gelehrt hat. wir sehen denn auch, daſs wol Welcker,
aber nicht daſs Hermann für Goethes Pandora das rechte verständnis hat.
Goethes Winckelmann stellte den ἥρως κτίστης der geschichtlichen alter-
tumswissenschaft in seiner überwältigenden gröſse einem geschlechte vor,
das seiner zumeist vergaſs. Welcker ist es, der mehr als irgend ein
anderer die gesammtleistung Winckelmanns fortgesetzt und weitergebildet
hat. Goethes Winckelmann ist die erste biographie in hohem stile, welche
das wirken des individuums sowol als individuelles wie auch als eines
gliedes in der allgemeinen culturentwickelung zur anschauung bringt.
Welcker hat es geleistet, manche persönlichkeit, die als individuum schatten-
haft bleibt, wiederherzustellen, indem er ihren platz in der gesammt-
entwickelung aufzeigte und danach ihre bedeutung schätzen lehrte. die
weltanschauung, welche Goethe um die wende des jahrhunderts in sich
vollkommen ausgebildet hatte, hat schwerlich jemand so rein aufgefaſst
wie Wilhelm von Humboldt, und dieser wieder hat durch sie Welckers
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[239/0259] Gottfried Hermann. Welcker. sein. wenn man sich den kopf wirr gemacht hat, indem man alles ge- lehrte und verkehrte zeug über eine controverse stelle gelesen hat, und dann den echten sprachkenner ohne viel federlesens den nagel auf den kopf treffen sieht; wenn man sich durch irgend einen geistreichen blender hat fangen lassen, und dann mit einem worte, etwa lediglich durch eine übersetzung der textworte oder der conjectur, die hohlheit als solche bloſsgestellt wird; wenn man etwa im Pindar von der schaumschlägerei und geheimniskrämerei der exegeten übelkeit empfindet, und sich durch einen gesunden nüchternen trunk wiederherstellt: dann spürt man den hauch des hermannischen geistes. und so soll denn jeder an ihm lernen wie an Aristarch, lernen trotzdem er weiſs, daſs er nicht auf ihrem stand- punkt beharren darf, und daſs wer das tut, ganz gewiſs keinen hauch von ihrem geiste verspürt, geschweige denn empfangen hat. Wenn man sich vorstellt, daſs jemand in einer kommenden zeit ohne jede kenntnis von den tatsächlichen beziehungen bloſs nach dem eindruck, der von der gesammtleistung der groſsen männer bleiben wird, eine vermutung wagen sollte, ob Hermann oder Welcker eine nahe be- ziehung zu Goethe gehabt hätte, der würde wol ohne zaudern Welcker nennen. denn wenn wir Goethe an der hellenischen sage fortdichten sehen, mit der freiheit aber auch mit dem innerlichen verständnis und der congenialität der attischen tragiker, so ist es Welcker gewesen, der das verhältnis bewuſster freiheit und unbewuſster gebundenheit, in welchem der künstler zu dem volkstümlichen lebendigen stoffe steht (der also mehr als stoff ist), erkennen gelehrt hat. wir sehen denn auch, daſs wol Welcker, aber nicht daſs Hermann für Goethes Pandora das rechte verständnis hat. Goethes Winckelmann stellte den ἥρως κτίστης der geschichtlichen alter- tumswissenschaft in seiner überwältigenden gröſse einem geschlechte vor, das seiner zumeist vergaſs. Welcker ist es, der mehr als irgend ein anderer die gesammtleistung Winckelmanns fortgesetzt und weitergebildet hat. Goethes Winckelmann ist die erste biographie in hohem stile, welche das wirken des individuums sowol als individuelles wie auch als eines gliedes in der allgemeinen culturentwickelung zur anschauung bringt. Welcker hat es geleistet, manche persönlichkeit, die als individuum schatten- haft bleibt, wiederherzustellen, indem er ihren platz in der gesammt- entwickelung aufzeigte und danach ihre bedeutung schätzen lehrte. die weltanschauung, welche Goethe um die wende des jahrhunderts in sich vollkommen ausgebildet hatte, hat schwerlich jemand so rein aufgefaſst wie Wilhelm von Humboldt, und dieser wieder hat durch sie Welckers wissenschaftlichem streben die weihe gegeben. man sollte meinen, daſs Welcker.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 239. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/259>, abgerufen am 29.03.2024.