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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Wege und ziele der modernen tragikerkritik.
ist. dass er nicht in ihm versunken ist, dankt er der Kantischen philo-
sophie. aber dem geschichtlichen betriebe der wissenschaft ward er auch
durch diese nur noch mehr entfremdet. dass ihm die grammatik nicht
genügte, welche er vorfand, war natürlich, da er die sprache wirklich
beherrschte. nun versuchte er ein neues system zu bauen. wir wohnen
noch in den trümmern desselben, aber wir wissen längst, dass die sprache
als ein geschichtlich gewordenes der logischen distinctionen spottet, wissen,
dass Madvigs verdammungsurteil über die bücher de particula an ein ge-
rechtes ist, und dass die wirklich wissenschaftliche behandlung der gram-
matik vielmehr mit Ph. Buttmann beginnt. der jammervolle zustand der
metrik, bei dem sich noch Valckenaer beruhigte, konnte Hermann ebenso
wenig genügen; sein eignes ohr lehrte ihn die rhythmen Pindars und
der tragischen lieder. so danken wir ihm, dass diese als kunstwerke
wirklich erst wieder lebendig wurden. aber aus abstracten theoremen
über rhythmus und mass kann niemals die verskunst einer concreten
sprache erläutert werden 11). so weit wir nicht unsere seele an ebenso
abstracte und ungeschichtliche modernere theoreme verkauft haben, leben
wir auch in der metrik unter den trümmern des Hermannschen systems:
genügen konnte es schon den zeitgenossen nicht. aber wol muss wieder
und wieder hervorgehoben werden, dass Hermann einmal in seinem leben,
in der untersuchung über den Orpheus, zu der geschichtlichen verfolgung
einer erscheinung in ihrem werden und ihrem wandel aufgestiegen ist,
und dass er mit dieser jugendarbeit in wahrheit sein höchstes geleistet
hat. es ist von Hermanns büchern das einzige das kaum gealtert ist.
ganz anders ist der eindruck, den man von den ältesten und zugleich
bedeutendsten abhandlungen empfängt, die in den opuscula stehen. wer
etwa sich in den strudel der meinungen gewagt hat, der zur zeit über
den dialekt der griechischen dichtungen auch einzelne verständige männer
fortreisst, der wird mit sehr hohem interesse die abhandlungen lesen,

11) Wes man sich zu versehen hat, dafür eine probe Elem. doctr. metr. 516
quis credat non ausos esse Graecos hosce praeclaros numeros admittere
BreveBreveBreve -- -- BreveBreve -- -- Breve -- --
BreveBreveBreve -- BreveBreve -- BreveBreve -- BreveBreveBreve -- --
quos Klopstockius usurpavit in his versibus
da zu dem angriff bei dem waldstrom das kriegslied
zu der vertilgenden schlacht und dem siege den befehl rief.
credant hoc qui ab opinionibus quas semel conceperunt avelli se non patiuntur.
ego ita sentio de illius gentis ingenio, nihil ut eos in quo venustatis aliqua aut
sublimitatis laus esset intactum reliquisse putem
. der kritische grundsatz, der vor-
wurf vorgefasster meinung gegen die gegner solcher schlüsse, die bewunderung der
papiernen versschemata: was ist das ärgste?

Wege und ziele der modernen tragikerkritik.
ist. daſs er nicht in ihm versunken ist, dankt er der Kantischen philo-
sophie. aber dem geschichtlichen betriebe der wissenschaft ward er auch
durch diese nur noch mehr entfremdet. daſs ihm die grammatik nicht
genügte, welche er vorfand, war natürlich, da er die sprache wirklich
beherrschte. nun versuchte er ein neues system zu bauen. wir wohnen
noch in den trümmern desselben, aber wir wissen längst, daſs die sprache
als ein geschichtlich gewordenes der logischen distinctionen spottet, wissen,
daſs Madvigs verdammungsurteil über die bücher de particula ἄν ein ge-
rechtes ist, und daſs die wirklich wissenschaftliche behandlung der gram-
matik vielmehr mit Ph. Buttmann beginnt. der jammervolle zustand der
metrik, bei dem sich noch Valckenaer beruhigte, konnte Hermann ebenso
wenig genügen; sein eignes ohr lehrte ihn die rhythmen Pindars und
der tragischen lieder. so danken wir ihm, daſs diese als kunstwerke
wirklich erst wieder lebendig wurden. aber aus abstracten theoremen
über rhythmus und maſs kann niemals die verskunst einer concreten
sprache erläutert werden 11). so weit wir nicht unsere seele an ebenso
abstracte und ungeschichtliche modernere theoreme verkauft haben, leben
wir auch in der metrik unter den trümmern des Hermannschen systems:
genügen konnte es schon den zeitgenossen nicht. aber wol muſs wieder
und wieder hervorgehoben werden, daſs Hermann einmal in seinem leben,
in der untersuchung über den Orpheus, zu der geschichtlichen verfolgung
einer erscheinung in ihrem werden und ihrem wandel aufgestiegen ist,
und daſs er mit dieser jugendarbeit in wahrheit sein höchstes geleistet
hat. es ist von Hermanns büchern das einzige das kaum gealtert ist.
ganz anders ist der eindruck, den man von den ältesten und zugleich
bedeutendsten abhandlungen empfängt, die in den opuscula stehen. wer
etwa sich in den strudel der meinungen gewagt hat, der zur zeit über
den dialekt der griechischen dichtungen auch einzelne verständige männer
fortreiſst, der wird mit sehr hohem interesse die abhandlungen lesen,

11) Wes man sich zu versehen hat, dafür eine probe Elem. doctr. metr. 516
quis credat non ausos esse Graecos hosce praeclaros numeros admittere
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quos Klopstockius usurpavit in his versibus
da zu dem angriff bei dem waldstrom das kriegslied
zu der vertilgenden schlacht und dem siege den befehl rief.
credant hoc qui ab opinionibus quas semel conceperunt avelli se non patiuntur.
ego ita sentio de illius gentis ingenio, nihil ut eos in quo venustatis aliqua aut
sublimitatis laus esset intactum reliquisse putem
. der kritische grundsatz, der vor-
wurf vorgefaſster meinung gegen die gegner solcher schlüsse, die bewunderung der
papiernen versschemata: was ist das ärgste?
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[236/0256] Wege und ziele der modernen tragikerkritik. ist. daſs er nicht in ihm versunken ist, dankt er der Kantischen philo- sophie. aber dem geschichtlichen betriebe der wissenschaft ward er auch durch diese nur noch mehr entfremdet. daſs ihm die grammatik nicht genügte, welche er vorfand, war natürlich, da er die sprache wirklich beherrschte. nun versuchte er ein neues system zu bauen. wir wohnen noch in den trümmern desselben, aber wir wissen längst, daſs die sprache als ein geschichtlich gewordenes der logischen distinctionen spottet, wissen, daſs Madvigs verdammungsurteil über die bücher de particula ἄν ein ge- rechtes ist, und daſs die wirklich wissenschaftliche behandlung der gram- matik vielmehr mit Ph. Buttmann beginnt. der jammervolle zustand der metrik, bei dem sich noch Valckenaer beruhigte, konnte Hermann ebenso wenig genügen; sein eignes ohr lehrte ihn die rhythmen Pindars und der tragischen lieder. so danken wir ihm, daſs diese als kunstwerke wirklich erst wieder lebendig wurden. aber aus abstracten theoremen über rhythmus und maſs kann niemals die verskunst einer concreten sprache erläutert werden 11). so weit wir nicht unsere seele an ebenso abstracte und ungeschichtliche modernere theoreme verkauft haben, leben wir auch in der metrik unter den trümmern des Hermannschen systems: genügen konnte es schon den zeitgenossen nicht. aber wol muſs wieder und wieder hervorgehoben werden, daſs Hermann einmal in seinem leben, in der untersuchung über den Orpheus, zu der geschichtlichen verfolgung einer erscheinung in ihrem werden und ihrem wandel aufgestiegen ist, und daſs er mit dieser jugendarbeit in wahrheit sein höchstes geleistet hat. es ist von Hermanns büchern das einzige das kaum gealtert ist. ganz anders ist der eindruck, den man von den ältesten und zugleich bedeutendsten abhandlungen empfängt, die in den opuscula stehen. wer etwa sich in den strudel der meinungen gewagt hat, der zur zeit über den dialekt der griechischen dichtungen auch einzelne verständige männer fortreiſst, der wird mit sehr hohem interesse die abhandlungen lesen, 11) Wes man sich zu versehen hat, dafür eine probe Elem. doctr. metr. 516 quis credat non ausos esse Graecos hosce praeclaros numeros admittere ⏑⏑⏑ —́ — ⏑⏑ —́ — ⏑ —́ — ⏑⏑⏑ —́ ⏑⏑ —́ ⏑⏑ —́ ⏑⏑⏑ —́ — quos Klopstockius usurpavit in his versibus da zu dem angriff bei dem waldstrom das kriegslied zu der vertilgenden schlacht und dem siege den befehl rief. credant hoc qui ab opinionibus quas semel conceperunt avelli se non patiuntur. ego ita sentio de illius gentis ingenio, nihil ut eos in quo venustatis aliqua aut sublimitatis laus esset intactum reliquisse putem. der kritische grundsatz, der vor- wurf vorgefaſster meinung gegen die gegner solcher schlüsse, die bewunderung der papiernen versschemata: was ist das ärgste?

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 236. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/256>, abgerufen am 19.04.2024.