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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Reiske. die goethische zeit.
nisten aussprechen konnte. und doch wurzelt die philologie, die heute
und in zukunft allein eine existenzberechtigung hat, in dem was Deutsche
männer zu Reiskes zeit und in der folgenden generation geschaffen oder
begründet haben. Lessing verstand zwar, die wahrheit zu gestehen, recht
unvollkommen griechisch (die Lessingphilologen überschätzen es), hatte
auch speciell von den tragikern nachweislich nicht viel gelesen, und für
ihre besondere grösse fehlte ihm ausser dem geschichtlichen verständnis,
das niemand erwarten wird, sogar die innere empfindung 9); aber selbst von
seinem poetischen standpunkte aus, wo die poesie weit mehr als ein werk
des witzes erschien denn als werk der phantasie, erfasste er mit wunderbar
sicherem trefferblick eine reihe der grundwahrheiten, und vor allem riss
er die hindernisse hinweg, die die barocke poetik vor die tragiker und
den Aristoteles gestellt hatte. er lehrte die musterbilder der poesie und
die regeln der poetik bei den Griechen selbst suchen. Winckelmann
ergänzte sein werk; er eröffnete endlich die schwesterkunst der attischen
dichtung dem verständnis, und bis auf den heutigen tag gilt es, dass den
Aischylos keiner recht begreift, der nicht für die sculpturwerke der
attischen frühzeit ein herz hat, und dass über diese nur stilistisches ge-
fasel redet, wem die verse nicht im eigenen wollaut zu herzen gegangen
sind. und Winckelmann gab mehr: er wies zuerst auf die sage als den
gemeinsamen born hin, aus dem dichter und künstler getrunken haben;
durch sein verdienst erscheinen die kunstwerke nicht mehr als etwas für
sich bestehendes und gemachtes, sondern als die gewachsenen blüten am
stamme der allgemeinen cultur des volkes. an Winckelmann und Lessing
setzte Herder an. er schärfte den blick sowol für das nationale wie
auch, und dies mit vorliebe, für das, was allen völkern unter ähnlichen
culturbedingungen gemeinsam ist; die poesie erschien nun als eine trotz
aller spaltung in mundarten dem menschengeschlecht gemeinsam ver-
liehene sprache. seine herzbewegende predigt machte die seelen der

9) Wer das hart geurteilt findet, der sehe im philologischen nachlass an, was
Lessing gelesen und was er dabei notirt hat; von den vergleichungen mit Seneca
als einer jugendarbeit zu schweigen. Lessing hat freilich ein leben des Sophokles
geschrieben, und zwar so wie es kein deutscher philologe damals konnte. aber er
gesteht so ziemlich selbst ein, dass er dazu kam, weil der artikel Sophokles bei Bayle
fehlte, und er hat in Bayles art zwar sehr viel über Sophokles zusammengetragen;
der dichter als dichter ist indes in keiner weise zu seiner rechnung gekommen. es
war ein ganz unwesentlicher umstand, dass das object der kritischen polymathie
zufällig ein attischer tragiker war. dass der verfasser des Laokoon genau so zu der
bildenden kunst stand wie der verfasser der Dramaturgie zu Aischylos, kann wol
als zugestanden gelten.

Reiske. die goethische zeit.
nisten aussprechen konnte. und doch wurzelt die philologie, die heute
und in zukunft allein eine existenzberechtigung hat, in dem was Deutsche
männer zu Reiskes zeit und in der folgenden generation geschaffen oder
begründet haben. Lessing verstand zwar, die wahrheit zu gestehen, recht
unvollkommen griechisch (die Lessingphilologen überschätzen es), hatte
auch speciell von den tragikern nachweislich nicht viel gelesen, und für
ihre besondere gröſse fehlte ihm auſser dem geschichtlichen verständnis,
das niemand erwarten wird, sogar die innere empfindung 9); aber selbst von
seinem poetischen standpunkte aus, wo die poesie weit mehr als ein werk
des witzes erschien denn als werk der phantasie, erfaſste er mit wunderbar
sicherem trefferblick eine reihe der grundwahrheiten, und vor allem riſs
er die hindernisse hinweg, die die barocke poetik vor die tragiker und
den Aristoteles gestellt hatte. er lehrte die musterbilder der poesie und
die regeln der poetik bei den Griechen selbst suchen. Winckelmann
ergänzte sein werk; er eröffnete endlich die schwesterkunst der attischen
dichtung dem verständnis, und bis auf den heutigen tag gilt es, daſs den
Aischylos keiner recht begreift, der nicht für die sculpturwerke der
attischen frühzeit ein herz hat, und daſs über diese nur stilistisches ge-
fasel redet, wem die verse nicht im eigenen wollaut zu herzen gegangen
sind. und Winckelmann gab mehr: er wies zuerst auf die sage als den
gemeinsamen born hin, aus dem dichter und künstler getrunken haben;
durch sein verdienst erscheinen die kunstwerke nicht mehr als etwas für
sich bestehendes und gemachtes, sondern als die gewachsenen blüten am
stamme der allgemeinen cultur des volkes. an Winckelmann und Lessing
setzte Herder an. er schärfte den blick sowol für das nationale wie
auch, und dies mit vorliebe, für das, was allen völkern unter ähnlichen
culturbedingungen gemeinsam ist; die poesie erschien nun als eine trotz
aller spaltung in mundarten dem menschengeschlecht gemeinsam ver-
liehene sprache. seine herzbewegende predigt machte die seelen der

9) Wer das hart geurteilt findet, der sehe im philologischen nachlaſs an, was
Lessing gelesen und was er dabei notirt hat; von den vergleichungen mit Seneca
als einer jugendarbeit zu schweigen. Lessing hat freilich ein leben des Sophokles
geschrieben, und zwar so wie es kein deutscher philologe damals konnte. aber er
gesteht so ziemlich selbst ein, daſs er dazu kam, weil der artikel Sophokles bei Bayle
fehlte, und er hat in Bayles art zwar sehr viel über Sophokles zusammengetragen;
der dichter als dichter ist indes in keiner weise zu seiner rechnung gekommen. es
war ein ganz unwesentlicher umstand, daſs das object der kritischen polymathie
zufällig ein attischer tragiker war. daſs der verfasser des Laokoon genau so zu der
bildenden kunst stand wie der verfasser der Dramaturgie zu Aischylos, kann wol
als zugestanden gelten.
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[233/0253] Reiske. die goethische zeit. nisten aussprechen konnte. und doch wurzelt die philologie, die heute und in zukunft allein eine existenzberechtigung hat, in dem was Deutsche männer zu Reiskes zeit und in der folgenden generation geschaffen oder begründet haben. Lessing verstand zwar, die wahrheit zu gestehen, recht unvollkommen griechisch (die Lessingphilologen überschätzen es), hatte auch speciell von den tragikern nachweislich nicht viel gelesen, und für ihre besondere gröſse fehlte ihm auſser dem geschichtlichen verständnis, das niemand erwarten wird, sogar die innere empfindung 9); aber selbst von seinem poetischen standpunkte aus, wo die poesie weit mehr als ein werk des witzes erschien denn als werk der phantasie, erfaſste er mit wunderbar sicherem trefferblick eine reihe der grundwahrheiten, und vor allem riſs er die hindernisse hinweg, die die barocke poetik vor die tragiker und den Aristoteles gestellt hatte. er lehrte die musterbilder der poesie und die regeln der poetik bei den Griechen selbst suchen. Winckelmann ergänzte sein werk; er eröffnete endlich die schwesterkunst der attischen dichtung dem verständnis, und bis auf den heutigen tag gilt es, daſs den Aischylos keiner recht begreift, der nicht für die sculpturwerke der attischen frühzeit ein herz hat, und daſs über diese nur stilistisches ge- fasel redet, wem die verse nicht im eigenen wollaut zu herzen gegangen sind. und Winckelmann gab mehr: er wies zuerst auf die sage als den gemeinsamen born hin, aus dem dichter und künstler getrunken haben; durch sein verdienst erscheinen die kunstwerke nicht mehr als etwas für sich bestehendes und gemachtes, sondern als die gewachsenen blüten am stamme der allgemeinen cultur des volkes. an Winckelmann und Lessing setzte Herder an. er schärfte den blick sowol für das nationale wie auch, und dies mit vorliebe, für das, was allen völkern unter ähnlichen culturbedingungen gemeinsam ist; die poesie erschien nun als eine trotz aller spaltung in mundarten dem menschengeschlecht gemeinsam ver- liehene sprache. seine herzbewegende predigt machte die seelen der 9) Wer das hart geurteilt findet, der sehe im philologischen nachlaſs an, was Lessing gelesen und was er dabei notirt hat; von den vergleichungen mit Seneca als einer jugendarbeit zu schweigen. Lessing hat freilich ein leben des Sophokles geschrieben, und zwar so wie es kein deutscher philologe damals konnte. aber er gesteht so ziemlich selbst ein, daſs er dazu kam, weil der artikel Sophokles bei Bayle fehlte, und er hat in Bayles art zwar sehr viel über Sophokles zusammengetragen; der dichter als dichter ist indes in keiner weise zu seiner rechnung gekommen. es war ein ganz unwesentlicher umstand, daſs das object der kritischen polymathie zufällig ein attischer tragiker war. daſs der verfasser des Laokoon genau so zu der bildenden kunst stand wie der verfasser der Dramaturgie zu Aischylos, kann wol als zugestanden gelten.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 233. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/253>, abgerufen am 28.03.2024.