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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Wege und ziele der modernen tragikerkritik.
menschen erworben, und sie entnahmen der antike die freiheit des
menschen; so erhoben sie sich zu einer so grossartigen und allumfassen-
den idee von der wissenschaft, wie sie nur Aristoteles gelehrt hat, und
zu einer idee von der grösse der philologie, wie sie den Hellenen nie
ganz zum bewusstsein gekommen ist. Scaligers auge hat die geschichts-
wissenschaft schon voll begriffen, weder vor der morgendämmerung des
orients noch vor den nebeln der kirchengeschichte zurückschreckend.
es ist nur wahr und gerecht, wie Niebuhr ihn gepriesen hat, und es ist
bezeichnend, dass Niebuhr, aber erst Niebuhr an ihn ansetzt. grossartige
unternehmungen, wie die sammlung der inschriften, nicht als curiositäten,
sondern als urkunden, die sammlung der grammatiker, nicht um von
ihnen latein schreiben zu lernen, sondern um aus ihnen das zertrümmerte
material alter gelehrsamkeit zu gewinnen, die wiederherstellung verlorner
litteraturwerke aus den bruchstücken, wie des Ennius und Lucilius, sind
von jener generation in angriff genommen. es lag in der natur des
materiales sowol als der zeitrichtung, dass solche unternehmungen dem
römischen altertum zunächst galten; aber wenn die entwickelung dauer
gehabt hätte, so würde auch für das griechische die zeit gekommen sein.
zur zeit war noch das auge für die 'Griechenschönheit' blind -- das fehlte
allen, und die ganze stolze philologie verkümmerte durch den sieg des
katholicismus in Frankreich. Scaliger flüchtete sie freilich nach Holland;
aber für den Hellenismus schlug in dem niederländischen volke keine
verwandte ader, weder in Holland, das ruhmvoll freiheit glauben und
sinnesart behauptete, noch in Brabant, das sich dem Romanismus ergab.
die 'lieblichste von allen scenen' ist weder für van Dyk noch für Rembrandt
zu malen. das protestantische südwestdeutschland würde am ehesten be-
rufen gewesen sein, der wissenschaft eine stätte zu bieten. Heidelberg
war für sie ein ganz anders vorbereiteter boden als Leyden. allein die
Deutschen und zumal ihre höchsten stände waren noch zu arge barbaren,
und allen hoffnungen machte der greuel der religionskriege ein ende. die
griechischen handschriften der Pfälzer bibliothek giengen zu ehren der
christenheit in den Vatican, zu schlafen neben ihren schwestern. Casau-
bonus flüchtete nach England; aber es war nicht ein same, den er aus-
gestreut hatte, als durch Richard Bentley um 1700 die englische philologie
mit einem male zu beherrschender höhe emporwuchs. England hatte es
vermocht, die bildungselemente des Romanismus ganz aufzunehmen, ohne
seine eigenart zu verlieren. es hatte während des 17. jahrhunderts, wenig
verflochten in die geschicke des continents, die gewaltigsten stürme sowol
im staatlichen wie im religiösen leben überstanden; mit der definitiven

Wege und ziele der modernen tragikerkritik.
menschen erworben, und sie entnahmen der antike die freiheit des
menschen; so erhoben sie sich zu einer so groſsartigen und allumfassen-
den idee von der wissenschaft, wie sie nur Aristoteles gelehrt hat, und
zu einer idee von der gröſse der philologie, wie sie den Hellenen nie
ganz zum bewuſstsein gekommen ist. Scaligers auge hat die geschichts-
wissenschaft schon voll begriffen, weder vor der morgendämmerung des
orients noch vor den nebeln der kirchengeschichte zurückschreckend.
es ist nur wahr und gerecht, wie Niebuhr ihn gepriesen hat, und es ist
bezeichnend, daſs Niebuhr, aber erst Niebuhr an ihn ansetzt. groſsartige
unternehmungen, wie die sammlung der inschriften, nicht als curiositäten,
sondern als urkunden, die sammlung der grammatiker, nicht um von
ihnen latein schreiben zu lernen, sondern um aus ihnen das zertrümmerte
material alter gelehrsamkeit zu gewinnen, die wiederherstellung verlorner
litteraturwerke aus den bruchstücken, wie des Ennius und Lucilius, sind
von jener generation in angriff genommen. es lag in der natur des
materiales sowol als der zeitrichtung, daſs solche unternehmungen dem
römischen altertum zunächst galten; aber wenn die entwickelung dauer
gehabt hätte, so würde auch für das griechische die zeit gekommen sein.
zur zeit war noch das auge für die ‘Griechenschönheit’ blind — das fehlte
allen, und die ganze stolze philologie verkümmerte durch den sieg des
katholicismus in Frankreich. Scaliger flüchtete sie freilich nach Holland;
aber für den Hellenismus schlug in dem niederländischen volke keine
verwandte ader, weder in Holland, das ruhmvoll freiheit glauben und
sinnesart behauptete, noch in Brabant, das sich dem Romanismus ergab.
die ‘lieblichste von allen scenen’ ist weder für van Dyk noch für Rembrandt
zu malen. das protestantische südwestdeutschland würde am ehesten be-
rufen gewesen sein, der wissenschaft eine stätte zu bieten. Heidelberg
war für sie ein ganz anders vorbereiteter boden als Leyden. allein die
Deutschen und zumal ihre höchsten stände waren noch zu arge barbaren,
und allen hoffnungen machte der greuel der religionskriege ein ende. die
griechischen handschriften der Pfälzer bibliothek giengen zu ehren der
christenheit in den Vatican, zu schlafen neben ihren schwestern. Casau-
bonus flüchtete nach England; aber es war nicht ein same, den er aus-
gestreut hatte, als durch Richard Bentley um 1700 die englische philologie
mit einem male zu beherrschender höhe emporwuchs. England hatte es
vermocht, die bildungselemente des Romanismus ganz aufzunehmen, ohne
seine eigenart zu verlieren. es hatte während des 17. jahrhunderts, wenig
verflochten in die geschicke des continents, die gewaltigsten stürme sowol
im staatlichen wie im religiösen leben überstanden; mit der definitiven

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[226/0246] Wege und ziele der modernen tragikerkritik. menschen erworben, und sie entnahmen der antike die freiheit des menschen; so erhoben sie sich zu einer so groſsartigen und allumfassen- den idee von der wissenschaft, wie sie nur Aristoteles gelehrt hat, und zu einer idee von der gröſse der philologie, wie sie den Hellenen nie ganz zum bewuſstsein gekommen ist. Scaligers auge hat die geschichts- wissenschaft schon voll begriffen, weder vor der morgendämmerung des orients noch vor den nebeln der kirchengeschichte zurückschreckend. es ist nur wahr und gerecht, wie Niebuhr ihn gepriesen hat, und es ist bezeichnend, daſs Niebuhr, aber erst Niebuhr an ihn ansetzt. groſsartige unternehmungen, wie die sammlung der inschriften, nicht als curiositäten, sondern als urkunden, die sammlung der grammatiker, nicht um von ihnen latein schreiben zu lernen, sondern um aus ihnen das zertrümmerte material alter gelehrsamkeit zu gewinnen, die wiederherstellung verlorner litteraturwerke aus den bruchstücken, wie des Ennius und Lucilius, sind von jener generation in angriff genommen. es lag in der natur des materiales sowol als der zeitrichtung, daſs solche unternehmungen dem römischen altertum zunächst galten; aber wenn die entwickelung dauer gehabt hätte, so würde auch für das griechische die zeit gekommen sein. zur zeit war noch das auge für die ‘Griechenschönheit’ blind — das fehlte allen, und die ganze stolze philologie verkümmerte durch den sieg des katholicismus in Frankreich. Scaliger flüchtete sie freilich nach Holland; aber für den Hellenismus schlug in dem niederländischen volke keine verwandte ader, weder in Holland, das ruhmvoll freiheit glauben und sinnesart behauptete, noch in Brabant, das sich dem Romanismus ergab. die ‘lieblichste von allen scenen’ ist weder für van Dyk noch für Rembrandt zu malen. das protestantische südwestdeutschland würde am ehesten be- rufen gewesen sein, der wissenschaft eine stätte zu bieten. Heidelberg war für sie ein ganz anders vorbereiteter boden als Leyden. allein die Deutschen und zumal ihre höchsten stände waren noch zu arge barbaren, und allen hoffnungen machte der greuel der religionskriege ein ende. die griechischen handschriften der Pfälzer bibliothek giengen zu ehren der christenheit in den Vatican, zu schlafen neben ihren schwestern. Casau- bonus flüchtete nach England; aber es war nicht ein same, den er aus- gestreut hatte, als durch Richard Bentley um 1700 die englische philologie mit einem male zu beherrschender höhe emporwuchs. England hatte es vermocht, die bildungselemente des Romanismus ganz aufzunehmen, ohne seine eigenart zu verlieren. es hatte während des 17. jahrhunderts, wenig verflochten in die geschicke des continents, die gewaltigsten stürme sowol im staatlichen wie im religiösen leben überstanden; mit der definitiven

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 226. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/246>, abgerufen am 29.03.2024.