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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Die französische philologie.
die knabenstimmung fahren lassen und in den grossen dramatikern der
Franzosen grosse dichter anerkennen. sollen wir denn nicht so viel
abstractionskraft besitzen, um an französischen heldinnen die namen Iphi-
genie und Oreste und in ihren schicksalen die alten sagenmotive hinzu-
nehmen, ohne von ihnen zu fordern, dass sie Hellenen wären? 8) Goethe
war darüber schom beim beginn dieses jahrhunderts hinweg, noch ehe
August Schlegel den Franzosen auf der höhe ihrer weltbeherrschenden
macht die comparaison entre la Phedre de Racine et celle d'Euripide
entgegenhielt. nun wäre es wol an der zeit, dass die geschichtliche wür-
digung beiden dichtern gleich zu teil würde. aber freilich, es ist vielleicht
gerecht, dass nun die französische tragödie durch ungerechte schätzung
dafür büsst, der würdigung und dem verständnis der attischen mehrere
generationen lang eintrag getan zu haben. denn an ihr liegt es, dass
Frankreich für die griechischen tragiker bis auf den heutigen tag äusserst
wenig geleistet hat, und dass die suprematie der französischen litteratur
gebrochen werden musste, damit die attische verstanden würde. was von
Franzosen im 17. und 18. jahrhundert über die griechischen tragiker
geschrieben ist, kann man, was diese betrifft, ungelesen lassen. die Fran-
zosen beginnen ja überhaupt erst seit einem menschenalter etwa durch
die teilnahme an der deutschen culturentwickelung für den echten Helle-
nismus empfänglich zu werden.

Ehe man dazu sich verstieg, erst es den Athenern gleich tun zu
wollen, und dann sich in dem naiven hochgefühle zu wiegen, ihnen weit
über zu sein (wie das bei Voltaire in scherz und ernst hervortritt), musste
freilich der geschichtliche sinn erst ausgetrieben, mussten die griechischen
studien von der beherrschenden höhe, die sie zu Scaligers zeit einnahmen,
auf den kümmerlichen stand gesunken sein, den sie, wenn man von der
patristik absieht, in dem classischen Frankreich einnahmen. das besorgte
der bund des absolutismus mit der gegenreformation. man wollte nur
die Huguenotten beseitigen und beseitigte den Hellenismus mit, denn
seine träger waren die vorkämpfer der reformation. Scaliger und sein
kreis ist freilich nicht abgetan mit der bezeichnung als träger der roma-
nischen cultur. sie hatten mit der reformation die freiheit des christen-

8) In wahrheit bedarf man einer nicht viel geringeren abstraction, wenn man
Ovids Metamorphosen mit genuss lesen will: an die götter und heroen darf man
nicht denken. durch die unverantwortliche verwendung des frivolen komischen epos
neben und vor Homer im der knabenschule ist freilich zumeist das gefühl für ernst
und heiligkeit der sage ertötet und die phantasie vergiftet, so dass das echte epos
nicht mehr wirken kann.
v. Wilamowitz I. 15

Die französische philologie.
die knabenstimmung fahren lassen und in den groſsen dramatikern der
Franzosen groſse dichter anerkennen. sollen wir denn nicht so viel
abstractionskraft besitzen, um an französischen heldinnen die namen Iphi-
génie und Oreste und in ihren schicksalen die alten sagenmotive hinzu-
nehmen, ohne von ihnen zu fordern, daſs sie Hellenen wären? 8) Goethe
war darüber schom beim beginn dieses jahrhunderts hinweg, noch ehe
August Schlegel den Franzosen auf der höhe ihrer weltbeherrschenden
macht die comparaison entre la Phèdre de Racine et celle d’Euripide
entgegenhielt. nun wäre es wol an der zeit, daſs die geschichtliche wür-
digung beiden dichtern gleich zu teil würde. aber freilich, es ist vielleicht
gerecht, daſs nun die französische tragödie durch ungerechte schätzung
dafür büſst, der würdigung und dem verständnis der attischen mehrere
generationen lang eintrag getan zu haben. denn an ihr liegt es, daſs
Frankreich für die griechischen tragiker bis auf den heutigen tag äuſserst
wenig geleistet hat, und daſs die suprematie der französischen litteratur
gebrochen werden muſste, damit die attische verstanden würde. was von
Franzosen im 17. und 18. jahrhundert über die griechischen tragiker
geschrieben ist, kann man, was diese betrifft, ungelesen lassen. die Fran-
zosen beginnen ja überhaupt erst seit einem menschenalter etwa durch
die teilnahme an der deutschen culturentwickelung für den echten Helle-
nismus empfänglich zu werden.

Ehe man dazu sich verstieg, erst es den Athenern gleich tun zu
wollen, und dann sich in dem naiven hochgefühle zu wiegen, ihnen weit
über zu sein (wie das bei Voltaire in scherz und ernst hervortritt), muſste
freilich der geschichtliche sinn erst ausgetrieben, muſsten die griechischen
studien von der beherrschenden höhe, die sie zu Scaligers zeit einnahmen,
auf den kümmerlichen stand gesunken sein, den sie, wenn man von der
patristik absieht, in dem classischen Frankreich einnahmen. das besorgte
der bund des absolutismus mit der gegenreformation. man wollte nur
die Huguenotten beseitigen und beseitigte den Hellenismus mit, denn
seine träger waren die vorkämpfer der reformation. Scaliger und sein
kreis ist freilich nicht abgetan mit der bezeichnung als träger der roma-
nischen cultur. sie hatten mit der reformation die freiheit des christen-

8) In wahrheit bedarf man einer nicht viel geringeren abstraction, wenn man
Ovids Metamorphosen mit genuſs lesen will: an die götter und heroen darf man
nicht denken. durch die unverantwortliche verwendung des frivolen komischen epos
neben und vor Homer im der knabenschule ist freilich zumeist das gefühl für ernst
und heiligkeit der sage ertötet und die phantasie vergiftet, so daſs das echte epos
nicht mehr wirken kann.
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[225/0245] Die französische philologie. die knabenstimmung fahren lassen und in den groſsen dramatikern der Franzosen groſse dichter anerkennen. sollen wir denn nicht so viel abstractionskraft besitzen, um an französischen heldinnen die namen Iphi- génie und Oreste und in ihren schicksalen die alten sagenmotive hinzu- nehmen, ohne von ihnen zu fordern, daſs sie Hellenen wären? 8) Goethe war darüber schom beim beginn dieses jahrhunderts hinweg, noch ehe August Schlegel den Franzosen auf der höhe ihrer weltbeherrschenden macht die comparaison entre la Phèdre de Racine et celle d’Euripide entgegenhielt. nun wäre es wol an der zeit, daſs die geschichtliche wür- digung beiden dichtern gleich zu teil würde. aber freilich, es ist vielleicht gerecht, daſs nun die französische tragödie durch ungerechte schätzung dafür büſst, der würdigung und dem verständnis der attischen mehrere generationen lang eintrag getan zu haben. denn an ihr liegt es, daſs Frankreich für die griechischen tragiker bis auf den heutigen tag äuſserst wenig geleistet hat, und daſs die suprematie der französischen litteratur gebrochen werden muſste, damit die attische verstanden würde. was von Franzosen im 17. und 18. jahrhundert über die griechischen tragiker geschrieben ist, kann man, was diese betrifft, ungelesen lassen. die Fran- zosen beginnen ja überhaupt erst seit einem menschenalter etwa durch die teilnahme an der deutschen culturentwickelung für den echten Helle- nismus empfänglich zu werden. Ehe man dazu sich verstieg, erst es den Athenern gleich tun zu wollen, und dann sich in dem naiven hochgefühle zu wiegen, ihnen weit über zu sein (wie das bei Voltaire in scherz und ernst hervortritt), muſste freilich der geschichtliche sinn erst ausgetrieben, muſsten die griechischen studien von der beherrschenden höhe, die sie zu Scaligers zeit einnahmen, auf den kümmerlichen stand gesunken sein, den sie, wenn man von der patristik absieht, in dem classischen Frankreich einnahmen. das besorgte der bund des absolutismus mit der gegenreformation. man wollte nur die Huguenotten beseitigen und beseitigte den Hellenismus mit, denn seine träger waren die vorkämpfer der reformation. Scaliger und sein kreis ist freilich nicht abgetan mit der bezeichnung als träger der roma- nischen cultur. sie hatten mit der reformation die freiheit des christen- 8) In wahrheit bedarf man einer nicht viel geringeren abstraction, wenn man Ovids Metamorphosen mit genuſs lesen will: an die götter und heroen darf man nicht denken. durch die unverantwortliche verwendung des frivolen komischen epos neben und vor Homer im der knabenschule ist freilich zumeist das gefühl für ernst und heiligkeit der sage ertötet und die phantasie vergiftet, so daſs das echte epos nicht mehr wirken kann. v. Wilamowitz I. 15

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 225. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/245>, abgerufen am 20.04.2024.