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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Die französische philologie.
standen noch geliebt. aufführungen der dramen sind auch, vornehmlich
in schulkreisen, vorgekommen; es ist das aber, wie die gegenwart zeigt,
ein experiment, welches weder für liebe noch für verständnis der antiken
tragödie zeugnis ablegt.

Die grossen philologen Frankreichs, Scaliger an der spitze, haben,
wie es nicht anders sein konnte, bei gelegentlicher berührung mancherlei
auch in den tragikern erläutert und verbessert, Casaubonus auch in seiner
abhandlung de satyrica Graecorum poesi für ein capitel der litteratur-
geschichte die unverrückbaren grundlinien mit weitem und scharfem blicke
gezogen. es ist nicht fraglich, dass diese generation, wenn sie auf die tragödie
anhaltendere studien verwendet hätte, mit leichter mühe etwa das erledigt
haben würde, was 200 jahre später der generation gelang, die vor Porson
und Hermann vorhergieng. allein es ist doch kein zufall, dass sie eben für
diese wie überhaupt für die classische griechische poesie (und eigentlich
auch die classische prosa) ein geringes interesse zeigte. die grossen philo-
logen waren eben Franzosen, sie hatten teil an jener grossartigen cultur-
entwickelung, welche wir die französische renaissance nennen, mit einem
namen der übel gewählt ist. denn es erstand nichts was jemals so oder
ähnlich gewesen war, sondern das seiner selbst bewusst gewordene fran-
zösische volkstum, culminirend in einem stolzen prächtigen aber auch
für die bildung empfänglichen adel, aus dem sich immer höher der könig-
liche hof erhob, nahm die gesammten culturelemente der italienischen
hochrenaissance, darunter auch das wiedererweckte altertum, in sich auf,
nur um im folgenden jahrhundert in staat und kirche, dichtung und
denken seine echtbürtige und eigene grossartige cultur zu entfalten. es
ist natürlich, dass in den zeiten der vorbereitung der anschluss an fremde
vorbilder stärker ist als in denen der vollendung. es ist auch unleugbar,
dass das griechische auf die französische renaissance stärker eingewirkt
hat als auf die italienische, von deren classikern zwar Macchiavelli im
grunde griechische gedanken nachdenkt und der modernen cultur zuführt,
aber wer würde bei Ariosto an etwas griechisches erinnert? bei Ronsard
und vollends bei Montaigne ist das anders 6). allein das altertum, an

nicht an groben misgriffen. solche verse kann nicht machen, wer sein ohr an die wirk-
lichen klänge der griechischen dichter gewöhnt hat. man vergleiche Hermanns boten-
bericht aus Wallensteins tod mit Scaligers Catullübersetzungen um den abstand zu
fühlen.
6) So wenig auch Montaigne nach seinen eigenen erzählungen selbst vom
griechischen verstanden hat, so stark ist doch die verwandtschaft nicht nur seiner
denkart sondern auch seiner schriftstellerei mit den aufsätzen der griechischen
popularphilosophie. auch wenn er Seneca wiedergibt, lässt er das pretiöse renom-

Die französische philologie.
standen noch geliebt. aufführungen der dramen sind auch, vornehmlich
in schulkreisen, vorgekommen; es ist das aber, wie die gegenwart zeigt,
ein experiment, welches weder für liebe noch für verständnis der antiken
tragödie zeugnis ablegt.

Die groſsen philologen Frankreichs, Scaliger an der spitze, haben,
wie es nicht anders sein konnte, bei gelegentlicher berührung mancherlei
auch in den tragikern erläutert und verbessert, Casaubonus auch in seiner
abhandlung de satyrica Graecorum poesi für ein capitel der litteratur-
geschichte die unverrückbaren grundlinien mit weitem und scharfem blicke
gezogen. es ist nicht fraglich, daſs diese generation, wenn sie auf die tragödie
anhaltendere studien verwendet hätte, mit leichter mühe etwa das erledigt
haben würde, was 200 jahre später der generation gelang, die vor Porson
und Hermann vorhergieng. allein es ist doch kein zufall, daſs sie eben für
diese wie überhaupt für die classische griechische poesie (und eigentlich
auch die classische prosa) ein geringes interesse zeigte. die groſsen philo-
logen waren eben Franzosen, sie hatten teil an jener groſsartigen cultur-
entwickelung, welche wir die französische renaissance nennen, mit einem
namen der übel gewählt ist. denn es erstand nichts was jemals so oder
ähnlich gewesen war, sondern das seiner selbst bewuſst gewordene fran-
zösische volkstum, culminirend in einem stolzen prächtigen aber auch
für die bildung empfänglichen adel, aus dem sich immer höher der könig-
liche hof erhob, nahm die gesammten culturelemente der italienischen
hochrenaissance, darunter auch das wiedererweckte altertum, in sich auf,
nur um im folgenden jahrhundert in staat und kirche, dichtung und
denken seine echtbürtige und eigene groſsartige cultur zu entfalten. es
ist natürlich, daſs in den zeiten der vorbereitung der anschluſs an fremde
vorbilder stärker ist als in denen der vollendung. es ist auch unleugbar,
daſs das griechische auf die französische renaissance stärker eingewirkt
hat als auf die italienische, von deren classikern zwar Macchiavelli im
grunde griechische gedanken nachdenkt und der modernen cultur zuführt,
aber wer würde bei Ariosto an etwas griechisches erinnert? bei Ronsard
und vollends bei Montaigne ist das anders 6). allein das altertum, an

nicht an groben misgriffen. solche verse kann nicht machen, wer sein ohr an die wirk-
lichen klänge der griechischen dichter gewöhnt hat. man vergleiche Hermanns boten-
bericht aus Wallensteins tod mit Scaligers Catullübersetzungen um den abstand zu
fühlen.
6) So wenig auch Montaigne nach seinen eigenen erzählungen selbst vom
griechischen verstanden hat, so stark ist doch die verwandtschaft nicht nur seiner
denkart sondern auch seiner schriftstellerei mit den aufsätzen der griechischen
popularphilosophie. auch wenn er Seneca wiedergibt, läſst er das pretiöse renom-
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[223/0243] Die französische philologie. standen noch geliebt. aufführungen der dramen sind auch, vornehmlich in schulkreisen, vorgekommen; es ist das aber, wie die gegenwart zeigt, ein experiment, welches weder für liebe noch für verständnis der antiken tragödie zeugnis ablegt. Die groſsen philologen Frankreichs, Scaliger an der spitze, haben, wie es nicht anders sein konnte, bei gelegentlicher berührung mancherlei auch in den tragikern erläutert und verbessert, Casaubonus auch in seiner abhandlung de satyrica Graecorum poesi für ein capitel der litteratur- geschichte die unverrückbaren grundlinien mit weitem und scharfem blicke gezogen. es ist nicht fraglich, daſs diese generation, wenn sie auf die tragödie anhaltendere studien verwendet hätte, mit leichter mühe etwa das erledigt haben würde, was 200 jahre später der generation gelang, die vor Porson und Hermann vorhergieng. allein es ist doch kein zufall, daſs sie eben für diese wie überhaupt für die classische griechische poesie (und eigentlich auch die classische prosa) ein geringes interesse zeigte. die groſsen philo- logen waren eben Franzosen, sie hatten teil an jener groſsartigen cultur- entwickelung, welche wir die französische renaissance nennen, mit einem namen der übel gewählt ist. denn es erstand nichts was jemals so oder ähnlich gewesen war, sondern das seiner selbst bewuſst gewordene fran- zösische volkstum, culminirend in einem stolzen prächtigen aber auch für die bildung empfänglichen adel, aus dem sich immer höher der könig- liche hof erhob, nahm die gesammten culturelemente der italienischen hochrenaissance, darunter auch das wiedererweckte altertum, in sich auf, nur um im folgenden jahrhundert in staat und kirche, dichtung und denken seine echtbürtige und eigene groſsartige cultur zu entfalten. es ist natürlich, daſs in den zeiten der vorbereitung der anschluſs an fremde vorbilder stärker ist als in denen der vollendung. es ist auch unleugbar, daſs das griechische auf die französische renaissance stärker eingewirkt hat als auf die italienische, von deren classikern zwar Macchiavelli im grunde griechische gedanken nachdenkt und der modernen cultur zuführt, aber wer würde bei Ariosto an etwas griechisches erinnert? bei Ronsard und vollends bei Montaigne ist das anders 6). allein das altertum, an 5) 6) So wenig auch Montaigne nach seinen eigenen erzählungen selbst vom griechischen verstanden hat, so stark ist doch die verwandtschaft nicht nur seiner denkart sondern auch seiner schriftstellerei mit den aufsätzen der griechischen popularphilosophie. auch wenn er Seneca wiedergibt, läſst er das pretiöse renom- 5) nicht an groben misgriffen. solche verse kann nicht machen, wer sein ohr an die wirk- lichen klänge der griechischen dichter gewöhnt hat. man vergleiche Hermanns boten- bericht aus Wallensteins tod mit Scaligers Catullübersetzungen um den abstand zu fühlen.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 223. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/243>, abgerufen am 19.04.2024.