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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Wege und ziele der modernen tragikerkritik.
verständigermassen ein, dass die handschriften, die etwa in ihre hände
kamen, einen schlechteren text enthielten als die vulgata. selbst H. Ste-
phanus hat für die dichter keine hervorragende bedeutung, nur in einem
falle ward ein für 200 jahre erfolgreicher aber sehr unheilvoller versuch
gewagt, die grundlage umzustürzen. Adrianus Turnebus (1553) baute
einen Sophoklestext auf die gründlich verwüstete recension des Triclinius
und schuf so die vulgata, deren zerstörung das hauptverdienst Ph. Bruncks
ist. die ansätze zu einer erklärung, welche man machte, waren und
blieben dürftig. nur der Holländer Wilhelm Canter, auch sonst ein scharf-
sinniger verbesserer, half in den chören wesentlich weiter, indem er in
zahlreichen liedern die responsion erkannte und danach abteilte. indessen
stand man den lyrischen partien fortdauernd hilflos gegenüber; die ver-
suche der byzantinischen gelehrten letzter zeit waren fast das einzige,
woran man sich halten konnte. nach ihrem vorgange pflegte man die
strophen in sehr kleine verschen zu zerstücken, die man dann ängstlich
einzeln numerirte oder doch zählte, und das höchste war, dass man den
einzelnen einen aus den metrischen traktaten geborgten namen gab. das
ist erst durch Gottfried Hermann ganz beseitigt; nur unsere verszählung,
an welcher zu rütteln immer wieder, glücklicher weise vergeblich, ver-
sucht wird, trägt davon die dauernden spuren. auch die sitte brach sich
bahn, die griechischen dramen (wie auch die lateinischen) in 5 acte zu
teilen, weil Horaz das zu fordern schien, und auch das hat bis zum ende
des 18. jahrhunderts gegolten. übersetzungen wurden vielfach versucht,
zum teil von namhaften männern wie Florens Christianus; ja sogar Joseph
Scaliger lieferte den 'Aiax lorarius'. den grossen sprachkünstler ver-
leugnete er auch hier nicht; dass es nicht ohne stillosigkeit abgieng, zeigt
schon der titel. und mochte den zeitgenossen der dialog einigermassen
den eindruck wiedergeben, den sie von einem sophokleischen drama
erwarteten, der dann freilich von dem was das echt attische und sopho-
kleische ist, ernste massvolle farbensatte schönheit, weit entfernt ist, so
fallen die chöre gänzlich ab 5); sie hat man damals überhaupt weder ver-

5) Man sehe als probe die wiedergabe der schönen strophe Ai. 624 sed cum
vetustatis obsita tempore canis et annis audibit anus parens hunc rabere mente
captum, lusciniae ilicet lamentabile carmen volitantis non illa occinet: ast lucti-
ficum integrabit lessum. pectora palmis atris tonsa sonabunt, incanamque manus
comam lacerabunt
. Scaligers griechische verse stehen, auch wenn man von den
zahlreichen verstössen gegen sprache und versmass absieht, höchstens auf der höhe
byzantinischer poeten wie Palladas oder Paulus des silentiars. es sind wesentlich
reminiscenzen, die eine gigantische gelehrsamkeit in einem selten trügenden gedächtnis
bereit hält, und auch wo ein bestimmter stil wiedergegeben werden soll, fehlt es

Wege und ziele der modernen tragikerkritik.
verständigermaſsen ein, daſs die handschriften, die etwa in ihre hände
kamen, einen schlechteren text enthielten als die vulgata. selbst H. Ste-
phanus hat für die dichter keine hervorragende bedeutung, nur in einem
falle ward ein für 200 jahre erfolgreicher aber sehr unheilvoller versuch
gewagt, die grundlage umzustürzen. Adrianus Turnebus (1553) baute
einen Sophoklestext auf die gründlich verwüstete recension des Triclinius
und schuf so die vulgata, deren zerstörung das hauptverdienst Ph. Bruncks
ist. die ansätze zu einer erklärung, welche man machte, waren und
blieben dürftig. nur der Holländer Wilhelm Canter, auch sonst ein scharf-
sinniger verbesserer, half in den chören wesentlich weiter, indem er in
zahlreichen liedern die responsion erkannte und danach abteilte. indessen
stand man den lyrischen partien fortdauernd hilflos gegenüber; die ver-
suche der byzantinischen gelehrten letzter zeit waren fast das einzige,
woran man sich halten konnte. nach ihrem vorgange pflegte man die
strophen in sehr kleine verschen zu zerstücken, die man dann ängstlich
einzeln numerirte oder doch zählte, und das höchste war, daſs man den
einzelnen einen aus den metrischen traktaten geborgten namen gab. das
ist erst durch Gottfried Hermann ganz beseitigt; nur unsere verszählung,
an welcher zu rütteln immer wieder, glücklicher weise vergeblich, ver-
sucht wird, trägt davon die dauernden spuren. auch die sitte brach sich
bahn, die griechischen dramen (wie auch die lateinischen) in 5 acte zu
teilen, weil Horaz das zu fordern schien, und auch das hat bis zum ende
des 18. jahrhunderts gegolten. übersetzungen wurden vielfach versucht,
zum teil von namhaften männern wie Florens Christianus; ja sogar Joseph
Scaliger lieferte den ‘Aiax lorarius’. den groſsen sprachkünstler ver-
leugnete er auch hier nicht; daſs es nicht ohne stillosigkeit abgieng, zeigt
schon der titel. und mochte den zeitgenossen der dialog einigermaſsen
den eindruck wiedergeben, den sie von einem sophokleischen drama
erwarteten, der dann freilich von dem was das echt attische und sopho-
kleische ist, ernste maſsvolle farbensatte schönheit, weit entfernt ist, so
fallen die chöre gänzlich ab 5); sie hat man damals überhaupt weder ver-

5) Man sehe als probe die wiedergabe der schönen strophe Ai. 624 sed cum
vetustatis obsita tempore canis et annis audibit anus parens hunc rabere mente
captum, lusciniae ilicet lamentabile carmen volitantis non illa occinet: ast lucti-
ficum integrabit lessum. pectora palmis atris tonsa sonabunt, incanamque manus
comam lacerabunt
. Scaligers griechische verse stehen, auch wenn man von den
zahlreichen verstöſsen gegen sprache und versmaſs absieht, höchstens auf der höhe
byzantinischer poeten wie Palladas oder Paulus des silentiars. es sind wesentlich
reminiscenzen, die eine gigantische gelehrsamkeit in einem selten trügenden gedächtnis
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[222/0242] Wege und ziele der modernen tragikerkritik. verständigermaſsen ein, daſs die handschriften, die etwa in ihre hände kamen, einen schlechteren text enthielten als die vulgata. selbst H. Ste- phanus hat für die dichter keine hervorragende bedeutung, nur in einem falle ward ein für 200 jahre erfolgreicher aber sehr unheilvoller versuch gewagt, die grundlage umzustürzen. Adrianus Turnebus (1553) baute einen Sophoklestext auf die gründlich verwüstete recension des Triclinius und schuf so die vulgata, deren zerstörung das hauptverdienst Ph. Bruncks ist. die ansätze zu einer erklärung, welche man machte, waren und blieben dürftig. nur der Holländer Wilhelm Canter, auch sonst ein scharf- sinniger verbesserer, half in den chören wesentlich weiter, indem er in zahlreichen liedern die responsion erkannte und danach abteilte. indessen stand man den lyrischen partien fortdauernd hilflos gegenüber; die ver- suche der byzantinischen gelehrten letzter zeit waren fast das einzige, woran man sich halten konnte. nach ihrem vorgange pflegte man die strophen in sehr kleine verschen zu zerstücken, die man dann ängstlich einzeln numerirte oder doch zählte, und das höchste war, daſs man den einzelnen einen aus den metrischen traktaten geborgten namen gab. das ist erst durch Gottfried Hermann ganz beseitigt; nur unsere verszählung, an welcher zu rütteln immer wieder, glücklicher weise vergeblich, ver- sucht wird, trägt davon die dauernden spuren. auch die sitte brach sich bahn, die griechischen dramen (wie auch die lateinischen) in 5 acte zu teilen, weil Horaz das zu fordern schien, und auch das hat bis zum ende des 18. jahrhunderts gegolten. übersetzungen wurden vielfach versucht, zum teil von namhaften männern wie Florens Christianus; ja sogar Joseph Scaliger lieferte den ‘Aiax lorarius’. den groſsen sprachkünstler ver- leugnete er auch hier nicht; daſs es nicht ohne stillosigkeit abgieng, zeigt schon der titel. und mochte den zeitgenossen der dialog einigermaſsen den eindruck wiedergeben, den sie von einem sophokleischen drama erwarteten, der dann freilich von dem was das echt attische und sopho- kleische ist, ernste maſsvolle farbensatte schönheit, weit entfernt ist, so fallen die chöre gänzlich ab 5); sie hat man damals überhaupt weder ver- 5) Man sehe als probe die wiedergabe der schönen strophe Ai. 624 sed cum vetustatis obsita tempore canis et annis audibit anus parens hunc rabere mente captum, lusciniae ilicet lamentabile carmen volitantis non illa occinet: ast lucti- ficum integrabit lessum. pectora palmis atris tonsa sonabunt, incanamque manus comam lacerabunt. Scaligers griechische verse stehen, auch wenn man von den zahlreichen verstöſsen gegen sprache und versmaſs absieht, höchstens auf der höhe byzantinischer poeten wie Palladas oder Paulus des silentiars. es sind wesentlich reminiscenzen, die eine gigantische gelehrsamkeit in einem selten trügenden gedächtnis bereit hält, und auch wo ein bestimmter stil wiedergegeben werden soll, fehlt es

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 222. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/242>, abgerufen am 28.03.2024.