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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Recensio und emendatio in den tragödien der auswahl.
auch den schatten dunkler fallen, obwol es schon ein grosser fortschritt
ist, die grösse des verlustes schätzen zu können. im Rhesos, Troerinnen
und gar Bakchen müssen eine ganze anzahl fehler stecken, da muss con-
jicirt werden, und gut genug, wenn man es noch kann, wenn der fehler
noch als solcher bemerkbar ist: denn viele varianten sind der art, dass das
richtige gar nicht geahnt werden kann, und wer es erträumen sollte, nicht
gehört werden darf, weil das falsche an sich nicht unmöglich ist. noch
stärkere schatten fallen auf Sophokles und gar Aischylos: sie können nach
diesem massstabe gemessen, gar nicht besser überliefert sein, als Euripides,
wenn wir nur M und ein par handschriften wie B hätten. doch fehlt es
nicht an einem troste, der bessere hoffnung gibt. beide tragiker sind viel
schwerer verständlich, auch lange nicht so oft abgeschrieben, so dass man
nicht den euripideischen dialog, dem die varianten vorwiegend angehören,
sondern die chöre vergleichen muss. in ihnen ist die alte corruptel viel-
leicht stärker, wemigstens hie und da, aber der text um so fester. Aischylos
vollends ist in den vier letzten stücken wesentlich dadurch verdorben,
dass ein äusserlich schlimm zugerichteter codex, den man sich ähnlich dem
antiken des Rhesos vorstellen mag, nur mit etwas mehr lesezeichen, allein
einem copisten vorlag: somit wird das verhältnis vielmehr den nur in CP
erhaltenen Euripidesdramen ähnlich 187). und wie den Euripidestext, so
sichern doch auch den der beiden andern die antiken citate selbst in
seinen fehlern.

Das ist der langen rede kurzer sinn: wir lesen in den commentirten
stücken den text des Aristophanes. auf den strebt unsere recensio im
weitesten sinne des wortes zu. wenn wir ihn aber haben, was dann?
dann gehn wir weiter, lediglich mit den hilfsmitteln der emendatio be-
wehrt. still zu stehn wäre entweder verzweifelnde resignation oder aber-
gläubische knechtschaft gegenüber der tradition: die recensio führt eben
zwar in den dichtern des dritten jahrhunderts bis auf den dichter, aber
in denen des fünften nur auf den herausgeber. so schlagen wir uns denn
mit den schauspiellern herum, die allerdings die verantwortung für die
meisten der schlechten verse zu tragen haben, die Aristophanes zugelassen
hat. dann suchen wir, meist vergeblich, solche fehler zu heben wie
ates ater (Soph. Ant. 4), gamous parempolountos alloious posei

187) Jede kritik die etwas leisten will, muss zwar die allgemeinen voraus-
setzungen, welche der weite umblick kennen lehrt, inne haben, und in so weit
mögen diese capitel auch für die anderen tragiker vorbereiten, aber dann muss sie
individualisiren; der einzelne schriftsteller, das einzelne buch, hat bis zum gewissen
grade seine eigene geschichte. das kann und soll hier nicht erschöpft werden.

Recensio und emendatio in den tragödien der auswahl.
auch den schatten dunkler fallen, obwol es schon ein groſser fortschritt
ist, die gröſse des verlustes schätzen zu können. im Rhesos, Troerinnen
und gar Bakchen müssen eine ganze anzahl fehler stecken, da muſs con-
jicirt werden, und gut genug, wenn man es noch kann, wenn der fehler
noch als solcher bemerkbar ist: denn viele varianten sind der art, daſs das
richtige gar nicht geahnt werden kann, und wer es erträumen sollte, nicht
gehört werden darf, weil das falsche an sich nicht unmöglich ist. noch
stärkere schatten fallen auf Sophokles und gar Aischylos: sie können nach
diesem maſsstabe gemessen, gar nicht besser überliefert sein, als Euripides,
wenn wir nur M und ein par handschriften wie B hätten. doch fehlt es
nicht an einem troste, der bessere hoffnung gibt. beide tragiker sind viel
schwerer verständlich, auch lange nicht so oft abgeschrieben, so daſs man
nicht den euripideischen dialog, dem die varianten vorwiegend angehören,
sondern die chöre vergleichen muſs. in ihnen ist die alte corruptel viel-
leicht stärker, wemigstens hie und da, aber der text um so fester. Aischylos
vollends ist in den vier letzten stücken wesentlich dadurch verdorben,
daſs ein äuſserlich schlimm zugerichteter codex, den man sich ähnlich dem
antiken des Rhesos vorstellen mag, nur mit etwas mehr lesezeichen, allein
einem copisten vorlag: somit wird das verhältnis vielmehr den nur in CP
erhaltenen Euripidesdramen ähnlich 187). und wie den Euripidestext, so
sichern doch auch den der beiden andern die antiken citate selbst in
seinen fehlern.

Das ist der langen rede kurzer sinn: wir lesen in den commentirten
stücken den text des Aristophanes. auf den strebt unsere recensio im
weitesten sinne des wortes zu. wenn wir ihn aber haben, was dann?
dann gehn wir weiter, lediglich mit den hilfsmitteln der emendatio be-
wehrt. still zu stehn wäre entweder verzweifelnde resignation oder aber-
gläubische knechtschaft gegenüber der tradition: die recensio führt eben
zwar in den dichtern des dritten jahrhunderts bis auf den dichter, aber
in denen des fünften nur auf den herausgeber. so schlagen wir uns denn
mit den schauspiellern herum, die allerdings die verantwortung für die
meisten der schlechten verse zu tragen haben, die Aristophanes zugelassen
hat. dann suchen wir, meist vergeblich, solche fehler zu heben wie
ἄτης ἄτερ (Soph. Ant. 4), γάμους παρεμπολοῦντος ἀλλοίους πόσει

187) Jede kritik die etwas leisten will, muſs zwar die allgemeinen voraus-
setzungen, welche der weite umblick kennen lehrt, inne haben, und in so weit
mögen diese capitel auch für die anderen tragiker vorbereiten, aber dann muſs sie
individualisiren; der einzelne schriftsteller, das einzelne buch, hat bis zum gewissen
grade seine eigene geschichte. das kann und soll hier nicht erschöpft werden.
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[215/0235] Recensio und emendatio in den tragödien der auswahl. auch den schatten dunkler fallen, obwol es schon ein groſser fortschritt ist, die gröſse des verlustes schätzen zu können. im Rhesos, Troerinnen und gar Bakchen müssen eine ganze anzahl fehler stecken, da muſs con- jicirt werden, und gut genug, wenn man es noch kann, wenn der fehler noch als solcher bemerkbar ist: denn viele varianten sind der art, daſs das richtige gar nicht geahnt werden kann, und wer es erträumen sollte, nicht gehört werden darf, weil das falsche an sich nicht unmöglich ist. noch stärkere schatten fallen auf Sophokles und gar Aischylos: sie können nach diesem maſsstabe gemessen, gar nicht besser überliefert sein, als Euripides, wenn wir nur M und ein par handschriften wie B hätten. doch fehlt es nicht an einem troste, der bessere hoffnung gibt. beide tragiker sind viel schwerer verständlich, auch lange nicht so oft abgeschrieben, so daſs man nicht den euripideischen dialog, dem die varianten vorwiegend angehören, sondern die chöre vergleichen muſs. in ihnen ist die alte corruptel viel- leicht stärker, wemigstens hie und da, aber der text um so fester. Aischylos vollends ist in den vier letzten stücken wesentlich dadurch verdorben, daſs ein äuſserlich schlimm zugerichteter codex, den man sich ähnlich dem antiken des Rhesos vorstellen mag, nur mit etwas mehr lesezeichen, allein einem copisten vorlag: somit wird das verhältnis vielmehr den nur in CP erhaltenen Euripidesdramen ähnlich 187). und wie den Euripidestext, so sichern doch auch den der beiden andern die antiken citate selbst in seinen fehlern. Das ist der langen rede kurzer sinn: wir lesen in den commentirten stücken den text des Aristophanes. auf den strebt unsere recensio im weitesten sinne des wortes zu. wenn wir ihn aber haben, was dann? dann gehn wir weiter, lediglich mit den hilfsmitteln der emendatio be- wehrt. still zu stehn wäre entweder verzweifelnde resignation oder aber- gläubische knechtschaft gegenüber der tradition: die recensio führt eben zwar in den dichtern des dritten jahrhunderts bis auf den dichter, aber in denen des fünften nur auf den herausgeber. so schlagen wir uns denn mit den schauspiellern herum, die allerdings die verantwortung für die meisten der schlechten verse zu tragen haben, die Aristophanes zugelassen hat. dann suchen wir, meist vergeblich, solche fehler zu heben wie ἄτης ἄτερ (Soph. Ant. 4), γάμους παρεμπολοῦντος ἀλλοίους πόσει 187) Jede kritik die etwas leisten will, muſs zwar die allgemeinen voraus- setzungen, welche der weite umblick kennen lehrt, inne haben, und in so weit mögen diese capitel auch für die anderen tragiker vorbereiten, aber dann muſs sie individualisiren; der einzelne schriftsteller, das einzelne buch, hat bis zum gewissen grade seine eigene geschichte. das kann und soll hier nicht erschöpft werden.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 215. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/235>, abgerufen am 29.03.2024.