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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Benutzung der auswahl. der Sophoklestext.
ist ein glück, dass wir die über die siebenzahl hinaus erhaltenen von
Euripides besitzen: aber wenigstens die drei ersten von Aischylos, die
je sieben der beiden anderen hätten für uns gar nicht verloren gehen
können, denn sie sind aus den händen des gelehrten publicums nie
geschwunden. und die überlieferung hat immer in den händen der ge-
lehrten gelegen, mochte die gelehrsamkeit absolut genommen gross oder
klein sein. der text, der zu grunde liegt, war auf grund der grammatischen
arbeiten festgestellt und von scholien begleitet; beide sind zusammen fort-
gepflanzt und trotz aller verkümmerung war die erklärung ein mächtiger
schutz des textes: so finden wir sie vereinigt vor. es könnte sein, dass wir
über diese lange periode vom 2. bis 11. jahrhundert gar nichts wüssten:
immerhin würden wir über die beschaffenheit des textes ein praejudiz
fällen, wie über den des Lykophron, und die schlimmsten verderbnisse
jenseits der zeit, wo unser text constituirt ward, verlegen. so ärmlich steht
es nun zwar nicht, aber es steht für die beiden älteren tragiker immerhin
ärmlich genug.

Zwar den Sophokles besitzen wir wenigstens in einer durch eineDer
Sophokles-
text.

reihe handschriften, darunter neben dem Laurentianus 32, 9 den sehr
achtbaren Paris. 2712, gesicherten recension, und wie im Aristophanes
treten auch hier die umfangreichen excerpte des Suidas ergänzend und
bestätigend namentlich für die scholien hinzu: also wir nehmen wenigstens
das 10. jahrhundert zum ausgangspunkt. aber der text ist von einer
verblüffenden einheitlichkeit. diese ist es gewesen, welche den wahn
erzeugt hat, dass der Laurentianus die quelle aller anderen handschriften
wäre, eine unglaubliche verkehrtheit, da ja niemand bestreiten konnte,
dass die scholien nicht aus ihm stammten. steht doch das genos Sopho-
kleous und die hypothesis zum Aias gar nicht in ihm, und die hypothesis
der Elektra z. b. in gänzlich verwaschener form 165), und einzelne er-

165) Jeder, der etwas von diesen dingen versteht, wird durch die vergleichung
der beiden fassungen, wie sie Michaelis vor seiner Elektra gegeben hat, überzeugt
werden. übrigens reicht auch als schiboleth der vers OT. 800 aus, der in L von
später hand nachgetragen ist, in den anderen zum teil älteren handschriften steht:
aus denen er also, nachdem er in allen gleichermassen interpolirt war, wieder in
das original eingetragen worden sein müsste. noch unbegreiflicher ist es freilich,
dass jemand den vers für unecht erklärt, ohne an die abhängigkeit der übrigen von
L zu glauben. aber eine schmach ist es, dass, wie wir es jetzt sehen müssen, die
scholien des Laur. als selbständiges buch auf den markt geworfen werden, gleich
als ob die andern handschriften nur eine wertlose masse wären. der herausgeber,
der seine ignoranz allerorten zeigt, hat dabei gar die upotheseis vergessen. einigen
nutzen gewährt dagegen für die Sophoklesscholien die dissertation von P. Jahr
(de cod. schol. Soph. Berlin 85).

Benutzung der auswahl. der Sophoklestext.
ist ein glück, daſs wir die über die siebenzahl hinaus erhaltenen von
Euripides besitzen: aber wenigstens die drei ersten von Aischylos, die
je sieben der beiden anderen hätten für uns gar nicht verloren gehen
können, denn sie sind aus den händen des gelehrten publicums nie
geschwunden. und die überlieferung hat immer in den händen der ge-
lehrten gelegen, mochte die gelehrsamkeit absolut genommen groſs oder
klein sein. der text, der zu grunde liegt, war auf grund der grammatischen
arbeiten festgestellt und von scholien begleitet; beide sind zusammen fort-
gepflanzt und trotz aller verkümmerung war die erklärung ein mächtiger
schutz des textes: so finden wir sie vereinigt vor. es könnte sein, daſs wir
über diese lange periode vom 2. bis 11. jahrhundert gar nichts wüſsten:
immerhin würden wir über die beschaffenheit des textes ein praejudiz
fällen, wie über den des Lykophron, und die schlimmsten verderbnisse
jenseits der zeit, wo unser text constituirt ward, verlegen. so ärmlich steht
es nun zwar nicht, aber es steht für die beiden älteren tragiker immerhin
ärmlich genug.

Zwar den Sophokles besitzen wir wenigstens in einer durch eineDer
Sophokles-
text.

reihe handschriften, darunter neben dem Laurentianus 32, 9 den sehr
achtbaren Paris. 2712, gesicherten recension, und wie im Aristophanes
treten auch hier die umfangreichen excerpte des Suidas ergänzend und
bestätigend namentlich für die scholien hinzu: also wir nehmen wenigstens
das 10. jahrhundert zum ausgangspunkt. aber der text ist von einer
verblüffenden einheitlichkeit. diese ist es gewesen, welche den wahn
erzeugt hat, daſs der Laurentianus die quelle aller anderen handschriften
wäre, eine unglaubliche verkehrtheit, da ja niemand bestreiten konnte,
daſs die scholien nicht aus ihm stammten. steht doch das γένος Σοφο-
ϰλέους und die hypothesis zum Aias gar nicht in ihm, und die hypothesis
der Elektra z. b. in gänzlich verwaschener form 165), und einzelne er-

165) Jeder, der etwas von diesen dingen versteht, wird durch die vergleichung
der beiden fassungen, wie sie Michaelis vor seiner Elektra gegeben hat, überzeugt
werden. übrigens reicht auch als schiboleth der vers OT. 800 aus, der in L von
später hand nachgetragen ist, in den anderen zum teil älteren handschriften steht:
aus denen er also, nachdem er in allen gleichermaſsen interpolirt war, wieder in
das original eingetragen worden sein müſste. noch unbegreiflicher ist es freilich,
daſs jemand den vers für unecht erklärt, ohne an die abhängigkeit der übrigen von
L zu glauben. aber eine schmach ist es, daſs, wie wir es jetzt sehen müssen, die
scholien des Laur. als selbständiges buch auf den markt geworfen werden, gleich
als ob die andern handschriften nur eine wertlose masse wären. der herausgeber,
der seine ignoranz allerorten zeigt, hat dabei gar die ὑποϑέσεις vergessen. einigen
nutzen gewährt dagegen für die Sophoklesscholien die dissertation von P. Jahr
(de cod. schol. Soph. Berlin 85).
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[203/0223] Benutzung der auswahl. der Sophoklestext. ist ein glück, daſs wir die über die siebenzahl hinaus erhaltenen von Euripides besitzen: aber wenigstens die drei ersten von Aischylos, die je sieben der beiden anderen hätten für uns gar nicht verloren gehen können, denn sie sind aus den händen des gelehrten publicums nie geschwunden. und die überlieferung hat immer in den händen der ge- lehrten gelegen, mochte die gelehrsamkeit absolut genommen groſs oder klein sein. der text, der zu grunde liegt, war auf grund der grammatischen arbeiten festgestellt und von scholien begleitet; beide sind zusammen fort- gepflanzt und trotz aller verkümmerung war die erklärung ein mächtiger schutz des textes: so finden wir sie vereinigt vor. es könnte sein, daſs wir über diese lange periode vom 2. bis 11. jahrhundert gar nichts wüſsten: immerhin würden wir über die beschaffenheit des textes ein praejudiz fällen, wie über den des Lykophron, und die schlimmsten verderbnisse jenseits der zeit, wo unser text constituirt ward, verlegen. so ärmlich steht es nun zwar nicht, aber es steht für die beiden älteren tragiker immerhin ärmlich genug. Zwar den Sophokles besitzen wir wenigstens in einer durch eine reihe handschriften, darunter neben dem Laurentianus 32, 9 den sehr achtbaren Paris. 2712, gesicherten recension, und wie im Aristophanes treten auch hier die umfangreichen excerpte des Suidas ergänzend und bestätigend namentlich für die scholien hinzu: also wir nehmen wenigstens das 10. jahrhundert zum ausgangspunkt. aber der text ist von einer verblüffenden einheitlichkeit. diese ist es gewesen, welche den wahn erzeugt hat, daſs der Laurentianus die quelle aller anderen handschriften wäre, eine unglaubliche verkehrtheit, da ja niemand bestreiten konnte, daſs die scholien nicht aus ihm stammten. steht doch das γένος Σοφο- ϰλέους und die hypothesis zum Aias gar nicht in ihm, und die hypothesis der Elektra z. b. in gänzlich verwaschener form 165), und einzelne er- Der Sophokles- text. 165) Jeder, der etwas von diesen dingen versteht, wird durch die vergleichung der beiden fassungen, wie sie Michaelis vor seiner Elektra gegeben hat, überzeugt werden. übrigens reicht auch als schiboleth der vers OT. 800 aus, der in L von später hand nachgetragen ist, in den anderen zum teil älteren handschriften steht: aus denen er also, nachdem er in allen gleichermaſsen interpolirt war, wieder in das original eingetragen worden sein müſste. noch unbegreiflicher ist es freilich, daſs jemand den vers für unecht erklärt, ohne an die abhängigkeit der übrigen von L zu glauben. aber eine schmach ist es, daſs, wie wir es jetzt sehen müssen, die scholien des Laur. als selbständiges buch auf den markt geworfen werden, gleich als ob die andern handschriften nur eine wertlose masse wären. der herausgeber, der seine ignoranz allerorten zeigt, hat dabei gar die ὑποϑέσεις vergessen. einigen nutzen gewährt dagegen für die Sophoklesscholien die dissertation von P. Jahr (de cod. schol. Soph. Berlin 85).

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 203. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/223>, abgerufen am 19.04.2024.