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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Geschichte des tragikertextes.
gleichwol auch das nicht erklären, dass sie etwa zu Plutarchs zeiten
gemacht, aber erst ein jahrhundert später allgemein durchgedrungen wäre.

Sei dem wie ihm wolle, und bleibe auch das fortleben der samm-
lung in seinen einzelnen phasen unklar: so viel ist dem spiele der pro-
babilitäten entrückt: in den abschliessenden zeiten der antiken grammatik
ist eine auswahl gemacht, und diese auswahl besitzen wir. es ist also
kein zufall, der uns eine handschrift oder die andere erhalten hat, in
der gerade die oder die dramen standen; noch ist etwa zu irgend einer
zeit zufällig eine handschrift erhalten gewesen, die dann copirt wurde
und die dramen auf uns brachte; sondern eine feste tradition und ein
nie ganz unterbrochener gelehrter betrieb hat uns diese dramen erhalten:
es ist zwar ein besonderes glück, dass wir die sieben aischyleischen noch
alle haben, denn diese waren zum teil ausser gebrauch gekommen, es

so beweist das nichts. auch von Pindar und Stesichoros citirt er nur was im Platon
steht, Sappho hat er allerdings gelesen. -- darauf dass in den resten des rhetors
Alexander Numenius nur Soph. El., Eur. Hek. Or. Med. vorkommen, möchte ich nichts
geben. -- Tatian, sophist von fach, hat von Orestes eine unklare erinnerung, wie
sie aus eigner lecture bleibt (10); wenn er aber die im Alkmeon auftretende Erinys
nennt (worte von ihr sind fgm. 1011 lateinisch erhalten), so entlehnt er das mit
der folgenden gelehrsamkeit seinen kynischen quellen. -- die atticisten scheinen
zwar die commentirten dramen zu bevorzugen, aber es ist längst nicht so sicher
wie für Aristophanes: die citate sind überall zu selten. -- dass der kaiser Iulian
von Aristophanes Plutos Ritter Acharner, von Euripides Orestes Phoenissen Bakchen
selbst gelesen hat, weiter nichts von tragödie und alter komödie aus eigner lecture
zu stammen braucht oder nachweislich stammt, ist freilich deutlich: aber ein sicherer
beleg des 4. jahrhunderts hilft wenig. er kennt Anakreon Sappho Simonides, das
zeigen seine werke, und dass er Bakchylides las, bezeugt Ammian 25, 4, 3: auch
Pindar kennt er, aber nur die epinikien (denn ep. 19 geht auf Isthm. 2). von den
andern wird es natürlich analoge auswahlen gegeben haben, d. h. einzelne bücher
der alten ausgaben. so etwas hat gleichzeitig Himerius besessen; und einzelnes hat
sich noch viel länger erhalten. wie die citate von commentaren bei Orion und die
erhaltenen fetzen von büchern der Sappho und einem der keischen dichter beweisen
(fgm. adesp. 85: von Pindar ist es nicht, denn dessen pythische epinikien haben
wir). für Choricius bestätigt J. Malchin (de Chor. Gaz. vet. scr. studiis Kiel 84) die
erwartung. er hat Hek. Or. Phoen. Hipp. Med. Andr. Tro. die in der rede uper
pantomimon erhaltenen verse (Malchin s. 46 und 50) sind stark verdächtig, übrigens
stammt das eine sicher aus einem florilegium. -- für Gregor von Nazianz trägt Stoppel
(qu. de Gr. Naz. poet. scaen. imit. Rostock 81) viel zusammen, was teils ganz nichtig
ist, teils auf die benutzung der lexica weist, die bei Gregor sehr deutlich ist. sicher
kennt er nur Eur. Hek. Or. Phoen. Med. Andr. Alk., wenn auch nur so viel. wenn
der iambische brief an Seleukos vielmehr von Amphilochius ist, fällt z. b. Alk. fort.
-- solche untersuchungen müssen auch für die prosa noch in grosser zahl angestellt
werden.

Geschichte des tragikertextes.
gleichwol auch das nicht erklären, daſs sie etwa zu Plutarchs zeiten
gemacht, aber erst ein jahrhundert später allgemein durchgedrungen wäre.

Sei dem wie ihm wolle, und bleibe auch das fortleben der samm-
lung in seinen einzelnen phasen unklar: so viel ist dem spiele der pro-
babilitäten entrückt: in den abschlieſsenden zeiten der antiken grammatik
ist eine auswahl gemacht, und diese auswahl besitzen wir. es ist also
kein zufall, der uns eine handschrift oder die andere erhalten hat, in
der gerade die oder die dramen standen; noch ist etwa zu irgend einer
zeit zufällig eine handschrift erhalten gewesen, die dann copirt wurde
und die dramen auf uns brachte; sondern eine feste tradition und ein
nie ganz unterbrochener gelehrter betrieb hat uns diese dramen erhalten:
es ist zwar ein besonderes glück, daſs wir die sieben aischyleischen noch
alle haben, denn diese waren zum teil auſser gebrauch gekommen, es

so beweist das nichts. auch von Pindar und Stesichoros citirt er nur was im Platon
steht, Sappho hat er allerdings gelesen. — darauf daſs in den resten des rhetors
Alexander Numenius nur Soph. El., Eur. Hek. Or. Med. vorkommen, möchte ich nichts
geben. — Tatian, sophist von fach, hat von Orestes eine unklare erinnerung, wie
sie aus eigner lecture bleibt (10); wenn er aber die im Alkmeon auftretende Erinys
nennt (worte von ihr sind fgm. 1011 lateinisch erhalten), so entlehnt er das mit
der folgenden gelehrsamkeit seinen kynischen quellen. — die atticisten scheinen
zwar die commentirten dramen zu bevorzugen, aber es ist längst nicht so sicher
wie für Aristophanes: die citate sind überall zu selten. — daſs der kaiser Iulian
von Aristophanes Plutos Ritter Acharner, von Euripides Orestes Phoenissen Bakchen
selbst gelesen hat, weiter nichts von tragödie und alter komödie aus eigner lecture
zu stammen braucht oder nachweislich stammt, ist freilich deutlich: aber ein sicherer
beleg des 4. jahrhunderts hilft wenig. er kennt Anakreon Sappho Simonides, das
zeigen seine werke, und daſs er Bakchylides las, bezeugt Ammian 25, 4, 3: auch
Pindar kennt er, aber nur die epinikien (denn ep. 19 geht auf Isthm. 2). von den
andern wird es natürlich analoge auswahlen gegeben haben, d. h. einzelne bücher
der alten ausgaben. so etwas hat gleichzeitig Himerius besessen; und einzelnes hat
sich noch viel länger erhalten. wie die citate von commentaren bei Orion und die
erhaltenen fetzen von büchern der Sappho und einem der keischen dichter beweisen
(fgm. adesp. 85: von Pindar ist es nicht, denn dessen pythische epinikien haben
wir). für Choricius bestätigt J. Malchin (de Chor. Gaz. vet. scr. studiis Kiel 84) die
erwartung. er hat Hek. Or. Phoen. Hipp. Med. Andr. Tro. die in der rede ὑπὲρ
παντομίμων erhaltenen verse (Malchin s. 46 und 50) sind stark verdächtig, übrigens
stammt das eine sicher aus einem florilegium. — für Gregor von Nazianz trägt Stoppel
(qu. de Gr. Naz. poet. scaen. imit. Rostock 81) viel zusammen, was teils ganz nichtig
ist, teils auf die benutzung der lexica weist, die bei Gregor sehr deutlich ist. sicher
kennt er nur Eur. Hek. Or. Phoen. Med. Andr. Alk., wenn auch nur so viel. wenn
der iambische brief an Seleukos vielmehr von Amphilochius ist, fällt z. b. Alk. fort.
— solche untersuchungen müssen auch für die prosa noch in groſser zahl angestellt
werden.
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[202/0222] Geschichte des tragikertextes. gleichwol auch das nicht erklären, daſs sie etwa zu Plutarchs zeiten gemacht, aber erst ein jahrhundert später allgemein durchgedrungen wäre. Sei dem wie ihm wolle, und bleibe auch das fortleben der samm- lung in seinen einzelnen phasen unklar: so viel ist dem spiele der pro- babilitäten entrückt: in den abschlieſsenden zeiten der antiken grammatik ist eine auswahl gemacht, und diese auswahl besitzen wir. es ist also kein zufall, der uns eine handschrift oder die andere erhalten hat, in der gerade die oder die dramen standen; noch ist etwa zu irgend einer zeit zufällig eine handschrift erhalten gewesen, die dann copirt wurde und die dramen auf uns brachte; sondern eine feste tradition und ein nie ganz unterbrochener gelehrter betrieb hat uns diese dramen erhalten: es ist zwar ein besonderes glück, daſs wir die sieben aischyleischen noch alle haben, denn diese waren zum teil auſser gebrauch gekommen, es 164) 164) so beweist das nichts. auch von Pindar und Stesichoros citirt er nur was im Platon steht, Sappho hat er allerdings gelesen. — darauf daſs in den resten des rhetors Alexander Numenius nur Soph. El., Eur. Hek. Or. Med. vorkommen, möchte ich nichts geben. — Tatian, sophist von fach, hat von Orestes eine unklare erinnerung, wie sie aus eigner lecture bleibt (10); wenn er aber die im Alkmeon auftretende Erinys nennt (worte von ihr sind fgm. 1011 lateinisch erhalten), so entlehnt er das mit der folgenden gelehrsamkeit seinen kynischen quellen. — die atticisten scheinen zwar die commentirten dramen zu bevorzugen, aber es ist längst nicht so sicher wie für Aristophanes: die citate sind überall zu selten. — daſs der kaiser Iulian von Aristophanes Plutos Ritter Acharner, von Euripides Orestes Phoenissen Bakchen selbst gelesen hat, weiter nichts von tragödie und alter komödie aus eigner lecture zu stammen braucht oder nachweislich stammt, ist freilich deutlich: aber ein sicherer beleg des 4. jahrhunderts hilft wenig. er kennt Anakreon Sappho Simonides, das zeigen seine werke, und daſs er Bakchylides las, bezeugt Ammian 25, 4, 3: auch Pindar kennt er, aber nur die epinikien (denn ep. 19 geht auf Isthm. 2). von den andern wird es natürlich analoge auswahlen gegeben haben, d. h. einzelne bücher der alten ausgaben. so etwas hat gleichzeitig Himerius besessen; und einzelnes hat sich noch viel länger erhalten. wie die citate von commentaren bei Orion und die erhaltenen fetzen von büchern der Sappho und einem der keischen dichter beweisen (fgm. adesp. 85: von Pindar ist es nicht, denn dessen pythische epinikien haben wir). für Choricius bestätigt J. Malchin (de Chor. Gaz. vet. scr. studiis Kiel 84) die erwartung. er hat Hek. Or. Phoen. Hipp. Med. Andr. Tro. die in der rede ὑπὲρ παντομίμων erhaltenen verse (Malchin s. 46 und 50) sind stark verdächtig, übrigens stammt das eine sicher aus einem florilegium. — für Gregor von Nazianz trägt Stoppel (qu. de Gr. Naz. poet. scaen. imit. Rostock 81) viel zusammen, was teils ganz nichtig ist, teils auf die benutzung der lexica weist, die bei Gregor sehr deutlich ist. sicher kennt er nur Eur. Hek. Or. Phoen. Med. Andr. Alk., wenn auch nur so viel. wenn der iambische brief an Seleukos vielmehr von Amphilochius ist, fällt z. b. Alk. fort. — solche untersuchungen müssen auch für die prosa noch in groſser zahl angestellt werden.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 202. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/222>, abgerufen am 23.04.2024.