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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Geschichte des tragikertextes.
muss das urteil auch hier ein gerechteres werden, indem es die richtige
geschichtliche betrachtung findet. diese Byzantiner sind eigentlich gar
nicht als schreiber, sondern als emendatoren aufzufassen, sie sind nicht
die collegen der braven stupiden mönche, die treufleissig nachmalten, was
sie nicht nur nicht verstanden, sondern auch nicht zu verstehen meinten,
sondern sie sind unsere collegen. an ihren zeit- und sinnesgenossen in
Italien müssen sie gemessen werden. es war doch eine art fortschritt,
ein regen modern philologischen sinnes, wenn die Planudes Moschopulos
Triklinios lesbare texte herstellten, so gut sie konnten; sie stehn nur in
einer übergangszeit, die Musurus Kallierges Arsenius Marullus Portus sind
ihre unmittelbaren nachfolger: die Griechen hatten auch teil an dem
rinascimento, der zusammenbruch ihres reiches durch die Türken hat
die entsprechende entwickelung nur gestört. nun wird man ja auch
geneigt sein, den benannten persönlichkeiten diese schätzung zuzugestehn;
aber ein schreiber, wie der des Florentiner Lysias, des Modeneser Xeno-
phon, des Münchener Polyaean, steht doch deswegen nicht anders da, weil
er anonym ist. und die correctoren mancher handschriften, auch von
den tragikern, verdienen eine gleiche schätzung. ihr scharfsinn ist gar
nicht gering, sie haben so manchen vers für immer geheilt, und noch
viel öfter das auge von jahrhunderten geblendet. namentlich Demetrios
Triklinios ist in wahrheit eher als der erste moderne tragikerkritiker zu
führen denn als ein unzuverlässiger vertreter der überlieferung. es war
schon nichts geringes, dass er sich die sämmtlichen gedichte Pindars, die
sämmtlichen tragödien des Aischylos und Sophokles, deren er habhaft
werden konnte, vornahm und durchemendirte. er besass aber auch gar
nicht geringe metrische kenntnisse, die er nicht den lehrbüchern sondern
der beobachtung entnahm und so gut er konnte an den texten durch-
führte, und vor allem, er hat erfolg gehabt. ausser den drei genannten
dichtern hat auch seine recension der ersten drei euripideischen tragö-
dien 146) sehr stark bis in die jüngste zeit gewirkt, und eine gar nicht
geringe anzahl von emendationen sind ihm wirklich gelungen. vor sehr
vielen modernen, die viel genannt worden sind, sich noch sehr viel anmass-
licher geberdet haben und nicht die entschuldigungen für ihre misgriffe

146) Es ist die von King vorgeholte und nach ihm benannte recension. hinzu
kommen die scholien zur Hekabe. Triklinios hatte keine guten handschriften; sein
Aischylos war ein bruder des Venetus 616, sein Pindar ein nachkomme des Flor. D.
Hillers 'beiträge zur textgeschichte der Bukoliker' haben auch seine Bukolikerhand-
schrift kennen gelehrt. auch hier hat er sich bemüht, so viel wie möglich zu sammeln.
gutes und böses hat er selbst wenig getan.

Geschichte des tragikertextes.
muſs das urteil auch hier ein gerechteres werden, indem es die richtige
geschichtliche betrachtung findet. diese Byzantiner sind eigentlich gar
nicht als schreiber, sondern als emendatoren aufzufassen, sie sind nicht
die collegen der braven stupiden mönche, die treufleiſsig nachmalten, was
sie nicht nur nicht verstanden, sondern auch nicht zu verstehen meinten,
sondern sie sind unsere collegen. an ihren zeit- und sinnesgenossen in
Italien müssen sie gemessen werden. es war doch eine art fortschritt,
ein regen modern philologischen sinnes, wenn die Planudes Moschopulos
Triklinios lesbare texte herstellten, so gut sie konnten; sie stehn nur in
einer übergangszeit, die Musurus Kallierges Arsenius Marullus Portus sind
ihre unmittelbaren nachfolger: die Griechen hatten auch teil an dem
rinascimento, der zusammenbruch ihres reiches durch die Türken hat
die entsprechende entwickelung nur gestört. nun wird man ja auch
geneigt sein, den benannten persönlichkeiten diese schätzung zuzugestehn;
aber ein schreiber, wie der des Florentiner Lysias, des Modeneser Xeno-
phon, des Münchener Polyaean, steht doch deswegen nicht anders da, weil
er anonym ist. und die correctoren mancher handschriften, auch von
den tragikern, verdienen eine gleiche schätzung. ihr scharfsinn ist gar
nicht gering, sie haben so manchen vers für immer geheilt, und noch
viel öfter das auge von jahrhunderten geblendet. namentlich Demetrios
Triklinios ist in wahrheit eher als der erste moderne tragikerkritiker zu
führen denn als ein unzuverlässiger vertreter der überlieferung. es war
schon nichts geringes, daſs er sich die sämmtlichen gedichte Pindars, die
sämmtlichen tragödien des Aischylos und Sophokles, deren er habhaft
werden konnte, vornahm und durchemendirte. er besaſs aber auch gar
nicht geringe metrische kenntnisse, die er nicht den lehrbüchern sondern
der beobachtung entnahm und so gut er konnte an den texten durch-
führte, und vor allem, er hat erfolg gehabt. auſser den drei genannten
dichtern hat auch seine recension der ersten drei euripideischen tragö-
dien 146) sehr stark bis in die jüngste zeit gewirkt, und eine gar nicht
geringe anzahl von emendationen sind ihm wirklich gelungen. vor sehr
vielen modernen, die viel genannt worden sind, sich noch sehr viel anmaſs-
licher geberdet haben und nicht die entschuldigungen für ihre misgriffe

146) Es ist die von King vorgeholte und nach ihm benannte recension. hinzu
kommen die scholien zur Hekabe. Triklinios hatte keine guten handschriften; sein
Aischylos war ein bruder des Venetus 616, sein Pindar ein nachkomme des Flor. D.
Hillers ‘beiträge zur textgeschichte der Bukoliker’ haben auch seine Bukolikerhand-
schrift kennen gelehrt. auch hier hat er sich bemüht, so viel wie möglich zu sammeln.
gutes und böses hat er selbst wenig getan.
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[194/0214] Geschichte des tragikertextes. muſs das urteil auch hier ein gerechteres werden, indem es die richtige geschichtliche betrachtung findet. diese Byzantiner sind eigentlich gar nicht als schreiber, sondern als emendatoren aufzufassen, sie sind nicht die collegen der braven stupiden mönche, die treufleiſsig nachmalten, was sie nicht nur nicht verstanden, sondern auch nicht zu verstehen meinten, sondern sie sind unsere collegen. an ihren zeit- und sinnesgenossen in Italien müssen sie gemessen werden. es war doch eine art fortschritt, ein regen modern philologischen sinnes, wenn die Planudes Moschopulos Triklinios lesbare texte herstellten, so gut sie konnten; sie stehn nur in einer übergangszeit, die Musurus Kallierges Arsenius Marullus Portus sind ihre unmittelbaren nachfolger: die Griechen hatten auch teil an dem rinascimento, der zusammenbruch ihres reiches durch die Türken hat die entsprechende entwickelung nur gestört. nun wird man ja auch geneigt sein, den benannten persönlichkeiten diese schätzung zuzugestehn; aber ein schreiber, wie der des Florentiner Lysias, des Modeneser Xeno- phon, des Münchener Polyaean, steht doch deswegen nicht anders da, weil er anonym ist. und die correctoren mancher handschriften, auch von den tragikern, verdienen eine gleiche schätzung. ihr scharfsinn ist gar nicht gering, sie haben so manchen vers für immer geheilt, und noch viel öfter das auge von jahrhunderten geblendet. namentlich Demetrios Triklinios ist in wahrheit eher als der erste moderne tragikerkritiker zu führen denn als ein unzuverlässiger vertreter der überlieferung. es war schon nichts geringes, daſs er sich die sämmtlichen gedichte Pindars, die sämmtlichen tragödien des Aischylos und Sophokles, deren er habhaft werden konnte, vornahm und durchemendirte. er besaſs aber auch gar nicht geringe metrische kenntnisse, die er nicht den lehrbüchern sondern der beobachtung entnahm und so gut er konnte an den texten durch- führte, und vor allem, er hat erfolg gehabt. auſser den drei genannten dichtern hat auch seine recension der ersten drei euripideischen tragö- dien 146) sehr stark bis in die jüngste zeit gewirkt, und eine gar nicht geringe anzahl von emendationen sind ihm wirklich gelungen. vor sehr vielen modernen, die viel genannt worden sind, sich noch sehr viel anmaſs- licher geberdet haben und nicht die entschuldigungen für ihre misgriffe 146) Es ist die von King vorgeholte und nach ihm benannte recension. hinzu kommen die scholien zur Hekabe. Triklinios hatte keine guten handschriften; sein Aischylos war ein bruder des Venetus 616, sein Pindar ein nachkomme des Flor. D. Hillers ‘beiträge zur textgeschichte der Bukoliker’ haben auch seine Bukolikerhand- schrift kennen gelehrt. auch hier hat er sich bemüht, so viel wie möglich zu sammeln. gutes und böses hat er selbst wenig getan.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 194. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/214>, abgerufen am 28.03.2024.