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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Geschichte des tragikertextes.
so wie sie die guten grammatiker lasen. darum ist Aristophanes der
schriftsteller, an dem man sich am leichtesten einen gradmesser für die
wahrscheinlichkeit der textverderbnis und für die berechtigung der kritik
in analogen fällen holen kann.

Pindar-
scholien.

Nicht viel geringere belehrung gewährt die überlieferung Pindars.
im zweiten jahrhundert hat jemand die vier letzten bücher der aristo-
phanischen ausgabe für die schule bearbeitet. offenbar schienen die epi-
nikien wegen der vielen persönlichen beziehungen zumal zu den sici-
lischen fürsten interessanter als die gedichte an götter. warum aber die
Nemeen vor die Isthmien gerückt sind, ist nicht zu erkennen 121). der
herausgeber war nicht im stande etwas gelehrtes zu leisten, hat auch
schwerlich den anspruch erhoben. er hat sich begnügt das gelehrte
material von Didymos zu übernehmen, mythographische auszüge und viel-
leicht vereinzelt anderes hinzuzufügen, wahrscheinlich auch irgendwoher die
metrische erklärung der kola zu nehmen 122) und endlich eine vollständige
paraphrase zu verfertigen. seine zeit ergibt sich daraus, dass Plutarch und
Aristides, die Pindar besonders viel citiren, von der bevorzugung der epi-
nikien nichts wissen, ebenso wenig Heliodor 123). auch für Lukian ist noch

121) Der schluss der Isthmien ist durch verstümmelung der handschriften erst spät
verloren. denn die handschrift D bricht mitten im achten gedichte ab. die collation
sagt nicht, ob die handschrift selbst verstümmelt ist; indess ist das unwahrscheinlich,
da zu den erhaltenen versen keine überschrift noch scholien da sind. ein citat aus
mittlerer byzantinischer zeit (fgm. 2) bezeugt für ein weiteres gedicht der Isthmien
die existenz. aber ein völlig haltloser einfall ist es, die belege für Pindars sprache,
welche Eustathius in der vorrede zu seiner geplanten Pindarausgabe beibringt, so
weit sie in unseren handschriften fehlen, auf die Isthmien zu beziehen. erstens fehlt
jeder beleg sonst bei Eustathius, dass er mehr als wir besessen hätte, zweitens hat
er überhaupt diese sprachliche sammlung nicht angelegt, so wenig wie er die apoph-
thegmen Pindars gesammelt hat, und drittens steht ein wort in dieser reihe, welches
nachweislich nicht aus den Isthmien ist, sondern aus dem gedicht an Theoxenos
(123, 5 elikoblepharos Aphrodita = Eust. 56, 20 Taf.), das in die egkomia gehört;
ganz zu geschweigen, dass es eine torheit ist, sich die zahl der Isthmien ins un-
gemessene zu vermehren. die erste upothesis Isthmion beginnt damit zu sagen,
dass alle spiele leichenspiele wären, Olympien Pythien Isthmien. da sie für die alte
ausgabe geschrieben ist, fehlen die Nemeen. aber Kallierges hat sie eingeschoben,
weil er von der echten reihenfolge keine ahnung hatte. erst der neuste herausgeber
hat die interpolation beseitigt, aber seinerseits eine lücke bezeichnet. ebenso gut
hätte er die interpolation behalten können.
122) Wenn dies nicht ein zusatz ist, wie Heliodor neben Symmachos im Aristo-
phanes steht.
123) Vgl. fgm. 177; auf ihn gehen wol auch die belege des Hephaestion zurück
fgm. 116. 117, und die besonders bezeichnenden, weil aus dem ersten hymnus stam-
menden 34. 35.

Geschichte des tragikertextes.
so wie sie die guten grammatiker lasen. darum ist Aristophanes der
schriftsteller, an dem man sich am leichtesten einen gradmesser für die
wahrscheinlichkeit der textverderbnis und für die berechtigung der kritik
in analogen fällen holen kann.

Pindar-
scholien.

Nicht viel geringere belehrung gewährt die überlieferung Pindars.
im zweiten jahrhundert hat jemand die vier letzten bücher der aristo-
phanischen ausgabe für die schule bearbeitet. offenbar schienen die epi-
nikien wegen der vielen persönlichen beziehungen zumal zu den sici-
lischen fürsten interessanter als die gedichte an götter. warum aber die
Nemeen vor die Isthmien gerückt sind, ist nicht zu erkennen 121). der
herausgeber war nicht im stande etwas gelehrtes zu leisten, hat auch
schwerlich den anspruch erhoben. er hat sich begnügt das gelehrte
material von Didymos zu übernehmen, mythographische auszüge und viel-
leicht vereinzelt anderes hinzuzufügen, wahrscheinlich auch irgendwoher die
metrische erklärung der kola zu nehmen 122) und endlich eine vollständige
paraphrase zu verfertigen. seine zeit ergibt sich daraus, daſs Plutarch und
Aristides, die Pindar besonders viel citiren, von der bevorzugung der epi-
nikien nichts wissen, ebenso wenig Heliodor 123). auch für Lukian ist noch

121) Der schluſs der Isthmien ist durch verstümmelung der handschriften erst spät
verloren. denn die handschrift D bricht mitten im achten gedichte ab. die collation
sagt nicht, ob die handschrift selbst verstümmelt ist; indeſs ist das unwahrscheinlich,
da zu den erhaltenen versen keine überschrift noch scholien da sind. ein citat aus
mittlerer byzantinischer zeit (fgm. 2) bezeugt für ein weiteres gedicht der Isthmien
die existenz. aber ein völlig haltloser einfall ist es, die belege für Pindars sprache,
welche Eustathius in der vorrede zu seiner geplanten Pindarausgabe beibringt, so
weit sie in unseren handschriften fehlen, auf die Isthmien zu beziehen. erstens fehlt
jeder beleg sonst bei Eustathius, daſs er mehr als wir besessen hätte, zweitens hat
er überhaupt diese sprachliche sammlung nicht angelegt, so wenig wie er die apoph-
thegmen Pindars gesammelt hat, und drittens steht ein wort in dieser reihe, welches
nachweislich nicht aus den Isthmien ist, sondern aus dem gedicht an Theoxenos
(123, 5 ἑλικοβλέφαρος Ἀφροδίτα = Eust. 56, 20 Taf.), das in die ἐγκώμια gehört;
ganz zu geschweigen, daſs es eine torheit ist, sich die zahl der Isthmien ins un-
gemessene zu vermehren. die erste ὑπόϑεσις Ἰσϑμίων beginnt damit zu sagen,
daſs alle spiele leichenspiele wären, Olympien Pythien Isthmien. da sie für die alte
ausgabe geschrieben ist, fehlen die Nemeen. aber Kallierges hat sie eingeschoben,
weil er von der echten reihenfolge keine ahnung hatte. erst der neuste herausgeber
hat die interpolation beseitigt, aber seinerseits eine lücke bezeichnet. ebenso gut
hätte er die interpolation behalten können.
122) Wenn dies nicht ein zusatz ist, wie Heliodor neben Symmachos im Aristo-
phanes steht.
123) Vgl. fgm. 177; auf ihn gehen wol auch die belege des Hephaestion zurück
fgm. 116. 117, und die besonders bezeichnenden, weil aus dem ersten hymnus stam-
menden 34. 35.
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[184/0204] Geschichte des tragikertextes. so wie sie die guten grammatiker lasen. darum ist Aristophanes der schriftsteller, an dem man sich am leichtesten einen gradmesser für die wahrscheinlichkeit der textverderbnis und für die berechtigung der kritik in analogen fällen holen kann. Nicht viel geringere belehrung gewährt die überlieferung Pindars. im zweiten jahrhundert hat jemand die vier letzten bücher der aristo- phanischen ausgabe für die schule bearbeitet. offenbar schienen die epi- nikien wegen der vielen persönlichen beziehungen zumal zu den sici- lischen fürsten interessanter als die gedichte an götter. warum aber die Nemeen vor die Isthmien gerückt sind, ist nicht zu erkennen 121). der herausgeber war nicht im stande etwas gelehrtes zu leisten, hat auch schwerlich den anspruch erhoben. er hat sich begnügt das gelehrte material von Didymos zu übernehmen, mythographische auszüge und viel- leicht vereinzelt anderes hinzuzufügen, wahrscheinlich auch irgendwoher die metrische erklärung der kola zu nehmen 122) und endlich eine vollständige paraphrase zu verfertigen. seine zeit ergibt sich daraus, daſs Plutarch und Aristides, die Pindar besonders viel citiren, von der bevorzugung der epi- nikien nichts wissen, ebenso wenig Heliodor 123). auch für Lukian ist noch 121) Der schluſs der Isthmien ist durch verstümmelung der handschriften erst spät verloren. denn die handschrift D bricht mitten im achten gedichte ab. die collation sagt nicht, ob die handschrift selbst verstümmelt ist; indeſs ist das unwahrscheinlich, da zu den erhaltenen versen keine überschrift noch scholien da sind. ein citat aus mittlerer byzantinischer zeit (fgm. 2) bezeugt für ein weiteres gedicht der Isthmien die existenz. aber ein völlig haltloser einfall ist es, die belege für Pindars sprache, welche Eustathius in der vorrede zu seiner geplanten Pindarausgabe beibringt, so weit sie in unseren handschriften fehlen, auf die Isthmien zu beziehen. erstens fehlt jeder beleg sonst bei Eustathius, daſs er mehr als wir besessen hätte, zweitens hat er überhaupt diese sprachliche sammlung nicht angelegt, so wenig wie er die apoph- thegmen Pindars gesammelt hat, und drittens steht ein wort in dieser reihe, welches nachweislich nicht aus den Isthmien ist, sondern aus dem gedicht an Theoxenos (123, 5 ἑλικοβλέφαρος Ἀφροδίτα = Eust. 56, 20 Taf.), das in die ἐγκώμια gehört; ganz zu geschweigen, daſs es eine torheit ist, sich die zahl der Isthmien ins un- gemessene zu vermehren. die erste ὑπόϑεσις Ἰσϑμίων beginnt damit zu sagen, daſs alle spiele leichenspiele wären, Olympien Pythien Isthmien. da sie für die alte ausgabe geschrieben ist, fehlen die Nemeen. aber Kallierges hat sie eingeschoben, weil er von der echten reihenfolge keine ahnung hatte. erst der neuste herausgeber hat die interpolation beseitigt, aber seinerseits eine lücke bezeichnet. ebenso gut hätte er die interpolation behalten können. 122) Wenn dies nicht ein zusatz ist, wie Heliodor neben Symmachos im Aristo- phanes steht. 123) Vgl. fgm. 177; auf ihn gehen wol auch die belege des Hephaestion zurück fgm. 116. 117, und die besonders bezeichnenden, weil aus dem ersten hymnus stam- menden 34. 35.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 184. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/204>, abgerufen am 24.04.2024.