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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Geschichte des tragikertextes.
züge aus Herodian, ergeben aber kein bild einer persönlichkeit. nach-
weislich sind einzeleintragungen aus büchern, die in byzantinischer zeit
geläufig waren, zu allen zeiten und in allen scholien zugetreten; man
kann also Phaeinos nach ihnen, z. b. den anm. 116 citirten, nicht wol
datiren. aber im allgemeinen darf Phaeinos wol für den redactor unserer
scholien gelten.

Wir haben das glück, dass die handschriften, mit denen wir operiren,
noch dem 10. jahrhundert angehören. der Ravennas ist selbst so alt,
der Venetus zwar hundert jahre jünger, aber so sorgfältig copirt 118),
dass er seine vorlage ersetzt, und eine dritte handschrift hat Suidas in
demselben jahrhundert fleissig ausgezogen. für die Acharner Ekklesia-
zusen und Lysistrate müssen uns freilich jüngere handschriften (Paris.
2712 und eine halb in Florenz als Laurentianus 31, 15, halb in Leyden
aufbewahrte) den Venetus, mit dessen recension sie sich ganz nahe be-
rühren, ersetzen, und die Thesmophoriazusen enthält nur der Ravennas.
daneben steht für die sieben stücke eine anzahl jüngerer handschriften,
die zum kleinsten teile aus den genannten stammen, für die scholien
auch keinesweges nur wertlose zusätze liefern, für den text aber unbe-
rücksichtigt bleiben dürfen. Ravennas gibt die scholien überaus dürftig,
so dass wir mit ihm allein etwa so stehen würden, wie mit dem Lau-
rentianus in den beiden ältern tragikern; doch schöpft er, wie man an
ihm selbst sieht, aus reicherer fülle.

Vom 10. jahrhundert gelangen wir also durch die recensio nur bis
ans ende des altertums, wo sich die ströme der überlieferung vereinen.
es ist ganz sonnenklar, dass die kritik eklektisch verfahren muss; Venetus
bietet aber mehr schreibfehler, Ravennas willkürlichkeiten. wir haben nun
eine grosse masse citate bei den atticisten und sonstigen späten schrift-
stellern, die uns die controlle ermöglichen: sie ergeben im wesentlichen
die bestätigung unseres textes, und da sie auf die Symmachosausgabe
oder gar ältere zurückgehen, so gelangen wir eben bis in die zeit, für
welche die scholien ja auch zeugen. endlich ist kürzlich ein bruchstück
einer handschrift aus den letzten zeiten des altertums entdeckt, welches
einen text liefert, der ein klein wenig neues geben würde, wenn nicht
die kritik die geringen fehler bereits beseitigt hätte, aber im ganzen mit
dem unsern identisch ist 119). so dürfen wir sagen, dass allerdings in

118) Dies zeigt Zacher Philol. 1882. Zachers neue arbeit (Handschriften und
classen der Ar. scholien Leipzig 88) habe ich noch nicht prüfen können. um so
weniger konnte ich ihre zum teil sehr befremdenden ergebnisse berücksichtigen.
119) Weil Rev. de phil. VI 179. es umfasst Vögel 1057--1085, 1101--27, die

Geschichte des tragikertextes.
züge aus Herodian, ergeben aber kein bild einer persönlichkeit. nach-
weislich sind einzeleintragungen aus büchern, die in byzantinischer zeit
geläufig waren, zu allen zeiten und in allen scholien zugetreten; man
kann also Phaeinos nach ihnen, z. b. den anm. 116 citirten, nicht wol
datiren. aber im allgemeinen darf Phaeinos wol für den redactor unserer
scholien gelten.

Wir haben das glück, daſs die handschriften, mit denen wir operiren,
noch dem 10. jahrhundert angehören. der Ravennas ist selbst so alt,
der Venetus zwar hundert jahre jünger, aber so sorgfältig copirt 118),
daſs er seine vorlage ersetzt, und eine dritte handschrift hat Suidas in
demselben jahrhundert fleiſsig ausgezogen. für die Acharner Ekklesia-
zusen und Lysistrate müssen uns freilich jüngere handschriften (Paris.
2712 und eine halb in Florenz als Laurentianus 31, 15, halb in Leyden
aufbewahrte) den Venetus, mit dessen recension sie sich ganz nahe be-
rühren, ersetzen, und die Thesmophoriazusen enthält nur der Ravennas.
daneben steht für die sieben stücke eine anzahl jüngerer handschriften,
die zum kleinsten teile aus den genannten stammen, für die scholien
auch keinesweges nur wertlose zusätze liefern, für den text aber unbe-
rücksichtigt bleiben dürfen. Ravennas gibt die scholien überaus dürftig,
so daſs wir mit ihm allein etwa so stehen würden, wie mit dem Lau-
rentianus in den beiden ältern tragikern; doch schöpft er, wie man an
ihm selbst sieht, aus reicherer fülle.

Vom 10. jahrhundert gelangen wir also durch die recensio nur bis
ans ende des altertums, wo sich die ströme der überlieferung vereinen.
es ist ganz sonnenklar, daſs die kritik eklektisch verfahren muſs; Venetus
bietet aber mehr schreibfehler, Ravennas willkürlichkeiten. wir haben nun
eine groſse masse citate bei den atticisten und sonstigen späten schrift-
stellern, die uns die controlle ermöglichen: sie ergeben im wesentlichen
die bestätigung unseres textes, und da sie auf die Symmachosausgabe
oder gar ältere zurückgehen, so gelangen wir eben bis in die zeit, für
welche die scholien ja auch zeugen. endlich ist kürzlich ein bruchstück
einer handschrift aus den letzten zeiten des altertums entdeckt, welches
einen text liefert, der ein klein wenig neues geben würde, wenn nicht
die kritik die geringen fehler bereits beseitigt hätte, aber im ganzen mit
dem unsern identisch ist 119). so dürfen wir sagen, daſs allerdings in

118) Dies zeigt Zacher Philol. 1882. Zachers neue arbeit (Handschriften und
classen der Ar. scholien Leipzig 88) habe ich noch nicht prüfen können. um so
weniger konnte ich ihre zum teil sehr befremdenden ergebnisse berücksichtigen.
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[182/0202] Geschichte des tragikertextes. züge aus Herodian, ergeben aber kein bild einer persönlichkeit. nach- weislich sind einzeleintragungen aus büchern, die in byzantinischer zeit geläufig waren, zu allen zeiten und in allen scholien zugetreten; man kann also Phaeinos nach ihnen, z. b. den anm. 116 citirten, nicht wol datiren. aber im allgemeinen darf Phaeinos wol für den redactor unserer scholien gelten. Wir haben das glück, daſs die handschriften, mit denen wir operiren, noch dem 10. jahrhundert angehören. der Ravennas ist selbst so alt, der Venetus zwar hundert jahre jünger, aber so sorgfältig copirt 118), daſs er seine vorlage ersetzt, und eine dritte handschrift hat Suidas in demselben jahrhundert fleiſsig ausgezogen. für die Acharner Ekklesia- zusen und Lysistrate müssen uns freilich jüngere handschriften (Paris. 2712 und eine halb in Florenz als Laurentianus 31, 15, halb in Leyden aufbewahrte) den Venetus, mit dessen recension sie sich ganz nahe be- rühren, ersetzen, und die Thesmophoriazusen enthält nur der Ravennas. daneben steht für die sieben stücke eine anzahl jüngerer handschriften, die zum kleinsten teile aus den genannten stammen, für die scholien auch keinesweges nur wertlose zusätze liefern, für den text aber unbe- rücksichtigt bleiben dürfen. Ravennas gibt die scholien überaus dürftig, so daſs wir mit ihm allein etwa so stehen würden, wie mit dem Lau- rentianus in den beiden ältern tragikern; doch schöpft er, wie man an ihm selbst sieht, aus reicherer fülle. Vom 10. jahrhundert gelangen wir also durch die recensio nur bis ans ende des altertums, wo sich die ströme der überlieferung vereinen. es ist ganz sonnenklar, daſs die kritik eklektisch verfahren muſs; Venetus bietet aber mehr schreibfehler, Ravennas willkürlichkeiten. wir haben nun eine groſse masse citate bei den atticisten und sonstigen späten schrift- stellern, die uns die controlle ermöglichen: sie ergeben im wesentlichen die bestätigung unseres textes, und da sie auf die Symmachosausgabe oder gar ältere zurückgehen, so gelangen wir eben bis in die zeit, für welche die scholien ja auch zeugen. endlich ist kürzlich ein bruchstück einer handschrift aus den letzten zeiten des altertums entdeckt, welches einen text liefert, der ein klein wenig neues geben würde, wenn nicht die kritik die geringen fehler bereits beseitigt hätte, aber im ganzen mit dem unsern identisch ist 119). so dürfen wir sagen, daſs allerdings in 118) Dies zeigt Zacher Philol. 1882. Zachers neue arbeit (Handschriften und classen der Ar. scholien Leipzig 88) habe ich noch nicht prüfen können. um so weniger konnte ich ihre zum teil sehr befremdenden ergebnisse berücksichtigen. 119) Weil Rev. de phil. VI 179. es umfaſst Vögel 1057—1085, 1101—27, die

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 182. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/202>, abgerufen am 25.04.2024.