Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

Bild:
<< vorherige Seite

Geschichte des tragikertextes.
Attiker: Aristides sagte es, dass ers besser könnte, und Lukian war zum
sagen zu klug, aber er glaubte es auch. an den verächtlichen siegespreis,
ein erlognes attisch zu reden, sich seinem eignen volkstum zu entfremden,
in den wolken zu leben, setzte man sauren schweiss, jahrelange arbeit,
beständigen training. und diesem niedern zwecke zu dienen, spannte
sich auch die grammatik ins joch: mag es auch mancher nicht eingestehen,
die grammatische arbeit des 2. jahrhunderts ist im grunde nichts als
sophistike proparaskeue.

Was diesen praktischen zwecken dienen kann, das wird eifrig fort-
studirt. nicht bloss die redner in der ausdehnung, welche der per-
gamenische kanon festgestellt hatte, sondern auch andere brauchbar
erscheinende schriftsteller, wie Xenophon und die anderen nicht gar zu
philosophischen Sokratiker: selbst Phaidon ist bis in das 4. jahrhundert
erhalten geblieben 107). Kritias hat sich eben so lange gehalten, nachdem
ihn die laune der archaisten entdeckt hatte. und da diese ihre experi-
mente bis zum ionisch schreiben steigerten, so erhielt selbst Hekataios
eine stilistische würdigung durch Hermogenes und sein geographisches
werk ist noch in frühbyzantinischer zeit gelesen 108); auch die ionischen
mythographen, Akusilaos und Pherekydes, haben keinesweges bloss in
excerpten gelebt 109). vollends die komödie war die ergiebigste fundgrube
des archaisten, und keinesweges bloss Menander, der bis über Iustinian
hinaus bekannt blieb, sondern selbst andere alte komiker als Aristophanes
haben noch leuten wie Libanius und Synesius vorgelegen. Galen schreibt
seine tragikercitate aus glossaren und philosophischen tractaten ab: über
die komödie hat er specialarbeiten verfasst. es war so ziemlich der ganze
nachlass der mese und nea, den Athenaeus selbst excerpirt hat: derselbe,
der keine einzige tragödie, kein lyrisches gedicht aus eignen mitteln citirt.
wozu sollte man auch diese gedichte lesen, die man nicht copiren wollte?
den sagenstoff, so weit man ihn für die allgemeine bildung brauchte,
lieferten die handbücher, und die vocabeln konnte man nicht brauchen.

Poesie ward freilich auch noch producirt, massenhaft sogar, während

107) Synesius (Dion. 17, p. 297 Krab.) nennt unter einer langen reihe von situa-
tionen die er platonischen dialogen entnimmt auch oude Simon o skuteus panu ti
sugkhorein exiou Sokratei, all epratteto logon ekastou logou, notwendigerweise
mit beziehung auf einen dialog, der dann Phaidons Simon war, den Iulian noch
gelesen hat. vgl. Herm. XIV 476.
108) Stephanus von Byzanz hat ihn selbst ausgezogen, Niese de Steph. Byz.
auct
. 13.
109) Das beweisen lange wörtliche den ionismus bewahrende stücke in den
scholien zur Odyssee (z. b. l 287, 321) Pindar (P. 4, 133) Apollonios (4, 1396, 1515).

Geschichte des tragikertextes.
Attiker: Aristides sagte es, daſs ers besser könnte, und Lukian war zum
sagen zu klug, aber er glaubte es auch. an den verächtlichen siegespreis,
ein erlognes attisch zu reden, sich seinem eignen volkstum zu entfremden,
in den wolken zu leben, setzte man sauren schweiſs, jahrelange arbeit,
beständigen training. und diesem niedern zwecke zu dienen, spannte
sich auch die grammatik ins joch: mag es auch mancher nicht eingestehen,
die grammatische arbeit des 2. jahrhunderts ist im grunde nichts als
σοφιστικὴ προπαρασκευή.

Was diesen praktischen zwecken dienen kann, das wird eifrig fort-
studirt. nicht bloſs die redner in der ausdehnung, welche der per-
gamenische kanon festgestellt hatte, sondern auch andere brauchbar
erscheinende schriftsteller, wie Xenophon und die anderen nicht gar zu
philosophischen Sokratiker: selbst Phaidon ist bis in das 4. jahrhundert
erhalten geblieben 107). Kritias hat sich eben so lange gehalten, nachdem
ihn die laune der archaisten entdeckt hatte. und da diese ihre experi-
mente bis zum ionisch schreiben steigerten, so erhielt selbst Hekataios
eine stilistische würdigung durch Hermogenes und sein geographisches
werk ist noch in frühbyzantinischer zeit gelesen 108); auch die ionischen
mythographen, Akusilaos und Pherekydes, haben keinesweges bloſs in
excerpten gelebt 109). vollends die komödie war die ergiebigste fundgrube
des archaisten, und keinesweges bloſs Menander, der bis über Iustinian
hinaus bekannt blieb, sondern selbst andere alte komiker als Aristophanes
haben noch leuten wie Libanius und Synesius vorgelegen. Galen schreibt
seine tragikercitate aus glossaren und philosophischen tractaten ab: über
die komödie hat er specialarbeiten verfaſst. es war so ziemlich der ganze
nachlaſs der μέση und νέα, den Athenaeus selbst excerpirt hat: derselbe,
der keine einzige tragödie, kein lyrisches gedicht aus eignen mitteln citirt.
wozu sollte man auch diese gedichte lesen, die man nicht copiren wollte?
den sagenstoff, so weit man ihn für die allgemeine bildung brauchte,
lieferten die handbücher, und die vocabeln konnte man nicht brauchen.

Poesie ward freilich auch noch producirt, massenhaft sogar, während

107) Synesius (Dion. 17, p. 297 Krab.) nennt unter einer langen reihe von situa-
tionen die er platonischen dialogen entnimmt auch οὐδὲ Σίμων ὁ σκυτεὺς πάνυ τι
συγχωρεῖν ἠξίου Σωκράτει, ἀλλ̕ ἐπράττετο λόγον έκάστου λόγου, notwendigerweise
mit beziehung auf einen dialog, der dann Phaidons Simon war, den Iulian noch
gelesen hat. vgl. Herm. XIV 476.
108) Stephanus von Byzanz hat ihn selbst ausgezogen, Niese de Steph. Byz.
auct
. 13.
109) Das beweisen lange wörtliche den ionismus bewahrende stücke in den
scholien zur Odyssee (z. b. λ 287, 321) Pindar (P. 4, 133) Apollonios (4, 1396, 1515).
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0196" n="176"/><fw place="top" type="header">Geschichte des tragikertextes.</fw><lb/>
Attiker: Aristides sagte es, da&#x017F;s ers besser könnte, und Lukian war zum<lb/>
sagen zu klug, aber er glaubte es auch. an den verächtlichen siegespreis,<lb/>
ein erlognes attisch zu reden, sich seinem eignen volkstum zu entfremden,<lb/>
in den wolken zu leben, setzte man sauren schwei&#x017F;s, jahrelange arbeit,<lb/>
beständigen training. und diesem niedern zwecke zu dienen, spannte<lb/>
sich auch die grammatik ins joch: mag es auch mancher nicht eingestehen,<lb/>
die grammatische arbeit des 2. jahrhunderts ist im grunde nichts als<lb/>
&#x03C3;&#x03BF;&#x03C6;&#x03B9;&#x03C3;&#x03C4;&#x03B9;&#x03BA;&#x1F74; &#x03C0;&#x03C1;&#x03BF;&#x03C0;&#x03B1;&#x03C1;&#x03B1;&#x03C3;&#x03BA;&#x03B5;&#x03C5;&#x03AE;.</p><lb/>
        <p>Was diesen praktischen zwecken dienen kann, das wird eifrig fort-<lb/>
studirt. nicht blo&#x017F;s die redner in der ausdehnung, welche der per-<lb/>
gamenische kanon festgestellt hatte, sondern auch andere brauchbar<lb/>
erscheinende schriftsteller, wie Xenophon und die anderen nicht gar zu<lb/>
philosophischen Sokratiker: selbst Phaidon ist bis in das 4. jahrhundert<lb/>
erhalten geblieben <note place="foot" n="107)">Synesius (Dion. 17, p. 297 Krab.) nennt unter einer langen reihe von situa-<lb/>
tionen die er platonischen dialogen entnimmt auch &#x03BF;&#x1F50;&#x03B4;&#x1F72; &#x03A3;&#x03AF;&#x03BC;&#x03C9;&#x03BD; &#x1F41; &#x03C3;&#x03BA;&#x03C5;&#x03C4;&#x03B5;&#x1F7A;&#x03C2; &#x03C0;&#x03AC;&#x03BD;&#x03C5; &#x03C4;&#x03B9;<lb/>
&#x03C3;&#x03C5;&#x03B3;&#x03C7;&#x03C9;&#x03C1;&#x03B5;&#x1FD6;&#x03BD; &#x1F20;&#x03BE;&#x03AF;&#x03BF;&#x03C5; &#x03A3;&#x03C9;&#x03BA;&#x03C1;&#x03AC;&#x03C4;&#x03B5;&#x03B9;, &#x1F00;&#x03BB;&#x03BB;&#x0315; &#x1F10;&#x03C0;&#x03C1;&#x03AC;&#x03C4;&#x03C4;&#x03B5;&#x03C4;&#x03BF; &#x03BB;&#x03CC;&#x03B3;&#x03BF;&#x03BD; &#x03AD;&#x03BA;&#x03AC;&#x03C3;&#x03C4;&#x03BF;&#x03C5; &#x03BB;&#x03CC;&#x03B3;&#x03BF;&#x03C5;, notwendigerweise<lb/>
mit beziehung auf einen dialog, der dann Phaidons Simon war, den Iulian noch<lb/>
gelesen hat. vgl. Herm. XIV 476.</note>. Kritias hat sich eben so lange gehalten, nachdem<lb/>
ihn die laune der archaisten entdeckt hatte. und da diese ihre experi-<lb/>
mente bis zum ionisch schreiben steigerten, so erhielt selbst Hekataios<lb/>
eine stilistische würdigung durch Hermogenes und sein geographisches<lb/>
werk ist noch in frühbyzantinischer zeit gelesen <note place="foot" n="108)">Stephanus von Byzanz hat ihn selbst ausgezogen, Niese <hi rendition="#i">de Steph. Byz.<lb/>
auct</hi>. 13.</note>; auch die ionischen<lb/>
mythographen, Akusilaos und Pherekydes, haben keinesweges blo&#x017F;s in<lb/>
excerpten gelebt <note place="foot" n="109)">Das beweisen lange wörtliche den ionismus bewahrende stücke in den<lb/>
scholien zur Odyssee (z. b. &#x03BB; 287, 321) Pindar (P. 4, 133) Apollonios (4, 1396, 1515).</note>. vollends die komödie war die ergiebigste fundgrube<lb/>
des archaisten, und keinesweges blo&#x017F;s Menander, der bis über Iustinian<lb/>
hinaus bekannt blieb, sondern selbst andere alte komiker als Aristophanes<lb/>
haben noch leuten wie Libanius und Synesius vorgelegen. Galen schreibt<lb/>
seine tragikercitate aus glossaren und philosophischen tractaten ab: über<lb/>
die komödie hat er specialarbeiten verfa&#x017F;st. es war so ziemlich der ganze<lb/>
nachla&#x017F;s der &#x03BC;&#x03AD;&#x03C3;&#x03B7; und &#x03BD;&#x03AD;&#x03B1;, den Athenaeus selbst excerpirt hat: derselbe,<lb/>
der keine einzige tragödie, kein lyrisches gedicht aus eignen mitteln citirt.<lb/>
wozu sollte man auch diese gedichte lesen, die man nicht copiren wollte?<lb/>
den sagenstoff, so weit man ihn für die allgemeine bildung brauchte,<lb/>
lieferten die handbücher, und die vocabeln konnte man nicht brauchen.</p><lb/>
        <p>Poesie ward freilich auch noch producirt, massenhaft sogar, während<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[176/0196] Geschichte des tragikertextes. Attiker: Aristides sagte es, daſs ers besser könnte, und Lukian war zum sagen zu klug, aber er glaubte es auch. an den verächtlichen siegespreis, ein erlognes attisch zu reden, sich seinem eignen volkstum zu entfremden, in den wolken zu leben, setzte man sauren schweiſs, jahrelange arbeit, beständigen training. und diesem niedern zwecke zu dienen, spannte sich auch die grammatik ins joch: mag es auch mancher nicht eingestehen, die grammatische arbeit des 2. jahrhunderts ist im grunde nichts als σοφιστικὴ προπαρασκευή. Was diesen praktischen zwecken dienen kann, das wird eifrig fort- studirt. nicht bloſs die redner in der ausdehnung, welche der per- gamenische kanon festgestellt hatte, sondern auch andere brauchbar erscheinende schriftsteller, wie Xenophon und die anderen nicht gar zu philosophischen Sokratiker: selbst Phaidon ist bis in das 4. jahrhundert erhalten geblieben 107). Kritias hat sich eben so lange gehalten, nachdem ihn die laune der archaisten entdeckt hatte. und da diese ihre experi- mente bis zum ionisch schreiben steigerten, so erhielt selbst Hekataios eine stilistische würdigung durch Hermogenes und sein geographisches werk ist noch in frühbyzantinischer zeit gelesen 108); auch die ionischen mythographen, Akusilaos und Pherekydes, haben keinesweges bloſs in excerpten gelebt 109). vollends die komödie war die ergiebigste fundgrube des archaisten, und keinesweges bloſs Menander, der bis über Iustinian hinaus bekannt blieb, sondern selbst andere alte komiker als Aristophanes haben noch leuten wie Libanius und Synesius vorgelegen. Galen schreibt seine tragikercitate aus glossaren und philosophischen tractaten ab: über die komödie hat er specialarbeiten verfaſst. es war so ziemlich der ganze nachlaſs der μέση und νέα, den Athenaeus selbst excerpirt hat: derselbe, der keine einzige tragödie, kein lyrisches gedicht aus eignen mitteln citirt. wozu sollte man auch diese gedichte lesen, die man nicht copiren wollte? den sagenstoff, so weit man ihn für die allgemeine bildung brauchte, lieferten die handbücher, und die vocabeln konnte man nicht brauchen. Poesie ward freilich auch noch producirt, massenhaft sogar, während 107) Synesius (Dion. 17, p. 297 Krab.) nennt unter einer langen reihe von situa- tionen die er platonischen dialogen entnimmt auch οὐδὲ Σίμων ὁ σκυτεὺς πάνυ τι συγχωρεῖν ἠξίου Σωκράτει, ἀλλ̕ ἐπράττετο λόγον έκάστου λόγου, notwendigerweise mit beziehung auf einen dialog, der dann Phaidons Simon war, den Iulian noch gelesen hat. vgl. Herm. XIV 476. 108) Stephanus von Byzanz hat ihn selbst ausgezogen, Niese de Steph. Byz. auct. 13. 109) Das beweisen lange wörtliche den ionismus bewahrende stücke in den scholien zur Odyssee (z. b. λ 287, 321) Pindar (P. 4, 133) Apollonios (4, 1396, 1515).

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/196
Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 176. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/196>, abgerufen am 28.03.2024.