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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Geschichte des tragikertextes.
es lob verdient, so kann das nur darin bestehn, dass man ihm zu gute
rechnet, doch nicht alles verwahrlost und verloren zu haben.

Wenn sich mit schlagenden belegstellen und directen zeugnissen die
tatsache kurz feststellen liesse, dass etwa im anfange des 2. jahrhunderts
ein mann von den drei tragikern eine anzahl stücke ausgewählt und in
neuer fester reihenfolge mit erklärungen edirt hat, zum zwecke zunächst
der schule, dass aber der erfolg fast unmittelbar der gewesen ist, dass
die übrigen werke zu gunsten dieser wenigen vergessen wurden, und
zumeist auch in folge dessen verloren gegangen sind, so würde es keines
weiteren ausholens bedürfen. allein als eine augenfällige tatsache tritt
dies erst dem entgegen, der die geschichtlichen bedingungen der cultur
zu verstehen gelernt hat, der die textgeschichte der einzelnen bücher
lediglich als ein einzelleben innerhalb des ganzen einheitlichen lebens der
grammatik und diese wieder als eine seite des ganzen grossen volkslebens
und seiner stätigen entwickelung aufzufassen im stande ist. darum ist
es notwendig, ins weite zu gehen.

Verfall der
cultur im
2. jahrh.
n. Chr.

In der geistigen kraft des hellenischen volkes bemerkt man seit dem
epochenjahre 222, dass des lebens flutstrom nach und nach ebbet. aber es
gibt doch noch bedeutende, neues schaffende geister bis tief in die zeit der
revolution hinab. der arzt Asklepiades, der philosoph Ainesidemos, vor allem
die letzte wahrhaft grosse forschergestalt des Poseidonios sind zeugen dafür.
aber die materielle und sittliche verwüstung, welche durch die fluchwürdige
wirtschaft der römischen oligarchie erzeugt wird, und dann die schrecken
des gerichtes, welches über diese hereinbricht, zerreissen alle fäden der
natürlichen entwickelung. kaiser Augustus erscheint dann freilich als ein
heiland: wie er es selbst erwartet 106) und verdient hat, haben ihm seine
woltaten die apotheose verschafft. die höchsten irdischen güter, frieden
und wolstand, hat er der welt gebracht. es schien, als wollte wirklich
neues leben aus den ruinen erblühen. man besann sich auch auf das
herrliche vermächtnis der ahnen, in welchem man das palladium der
gesittung nicht verkannte. die cultur des zwiesprachigen weltreiches, die
doch die hellenische war, gewann expansiv eine starke kraft und viele
treffliche männer in allen kreisen des lebens bemühten sich dem volke
glauben und sitte und philosophie und die in der herrlichsten poesie be-
schlossenen ideale zu erhalten. aber dem seelenleben seines volkes hatte

106) Er selbst schreibt an seinen sohn benignitas enim mea me ad caelestem
gloriam efferet
(Sueton Aug. 71): man entfernt sich also doch wol nicht von dem
sinne des kaisers, wenn man den bericht, den er gleichzeitig über sein leben auf-
zeichnet, unter diesem augenpunkte betrachtet.

Geschichte des tragikertextes.
es lob verdient, so kann das nur darin bestehn, daſs man ihm zu gute
rechnet, doch nicht alles verwahrlost und verloren zu haben.

Wenn sich mit schlagenden belegstellen und directen zeugnissen die
tatsache kurz feststellen lieſse, daſs etwa im anfange des 2. jahrhunderts
ein mann von den drei tragikern eine anzahl stücke ausgewählt und in
neuer fester reihenfolge mit erklärungen edirt hat, zum zwecke zunächst
der schule, daſs aber der erfolg fast unmittelbar der gewesen ist, daſs
die übrigen werke zu gunsten dieser wenigen vergessen wurden, und
zumeist auch in folge dessen verloren gegangen sind, so würde es keines
weiteren ausholens bedürfen. allein als eine augenfällige tatsache tritt
dies erst dem entgegen, der die geschichtlichen bedingungen der cultur
zu verstehen gelernt hat, der die textgeschichte der einzelnen bücher
lediglich als ein einzelleben innerhalb des ganzen einheitlichen lebens der
grammatik und diese wieder als eine seite des ganzen groſsen volkslebens
und seiner stätigen entwickelung aufzufassen im stande ist. darum ist
es notwendig, ins weite zu gehen.

Verfall der
cultur im
2. jahrh.
n. Chr.

In der geistigen kraft des hellenischen volkes bemerkt man seit dem
epochenjahre 222, daſs des lebens flutstrom nach und nach ebbet. aber es
gibt doch noch bedeutende, neues schaffende geister bis tief in die zeit der
revolution hinab. der arzt Asklepiades, der philosoph Ainesidemos, vor allem
die letzte wahrhaft groſse forschergestalt des Poseidonios sind zeugen dafür.
aber die materielle und sittliche verwüstung, welche durch die fluchwürdige
wirtschaft der römischen oligarchie erzeugt wird, und dann die schrecken
des gerichtes, welches über diese hereinbricht, zerreiſsen alle fäden der
natürlichen entwickelung. kaiser Augustus erscheint dann freilich als ein
heiland: wie er es selbst erwartet 106) und verdient hat, haben ihm seine
woltaten die apotheose verschafft. die höchsten irdischen güter, frieden
und wolstand, hat er der welt gebracht. es schien, als wollte wirklich
neues leben aus den ruinen erblühen. man besann sich auch auf das
herrliche vermächtnis der ahnen, in welchem man das palladium der
gesittung nicht verkannte. die cultur des zwiesprachigen weltreiches, die
doch die hellenische war, gewann expansiv eine starke kraft und viele
treffliche männer in allen kreisen des lebens bemühten sich dem volke
glauben und sitte und philosophie und die in der herrlichsten poesie be-
schlossenen ideale zu erhalten. aber dem seelenleben seines volkes hatte

106) Er selbst schreibt an seinen sohn benignitas enim mea me ad caelestem
gloriam efferet
(Sueton Aug. 71): man entfernt sich also doch wol nicht von dem
sinne des kaisers, wenn man den bericht, den er gleichzeitig über sein leben auf-
zeichnet, unter diesem augenpunkte betrachtet.
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[174/0194] Geschichte des tragikertextes. es lob verdient, so kann das nur darin bestehn, daſs man ihm zu gute rechnet, doch nicht alles verwahrlost und verloren zu haben. Wenn sich mit schlagenden belegstellen und directen zeugnissen die tatsache kurz feststellen lieſse, daſs etwa im anfange des 2. jahrhunderts ein mann von den drei tragikern eine anzahl stücke ausgewählt und in neuer fester reihenfolge mit erklärungen edirt hat, zum zwecke zunächst der schule, daſs aber der erfolg fast unmittelbar der gewesen ist, daſs die übrigen werke zu gunsten dieser wenigen vergessen wurden, und zumeist auch in folge dessen verloren gegangen sind, so würde es keines weiteren ausholens bedürfen. allein als eine augenfällige tatsache tritt dies erst dem entgegen, der die geschichtlichen bedingungen der cultur zu verstehen gelernt hat, der die textgeschichte der einzelnen bücher lediglich als ein einzelleben innerhalb des ganzen einheitlichen lebens der grammatik und diese wieder als eine seite des ganzen groſsen volkslebens und seiner stätigen entwickelung aufzufassen im stande ist. darum ist es notwendig, ins weite zu gehen. In der geistigen kraft des hellenischen volkes bemerkt man seit dem epochenjahre 222, daſs des lebens flutstrom nach und nach ebbet. aber es gibt doch noch bedeutende, neues schaffende geister bis tief in die zeit der revolution hinab. der arzt Asklepiades, der philosoph Ainesidemos, vor allem die letzte wahrhaft groſse forschergestalt des Poseidonios sind zeugen dafür. aber die materielle und sittliche verwüstung, welche durch die fluchwürdige wirtschaft der römischen oligarchie erzeugt wird, und dann die schrecken des gerichtes, welches über diese hereinbricht, zerreiſsen alle fäden der natürlichen entwickelung. kaiser Augustus erscheint dann freilich als ein heiland: wie er es selbst erwartet 106) und verdient hat, haben ihm seine woltaten die apotheose verschafft. die höchsten irdischen güter, frieden und wolstand, hat er der welt gebracht. es schien, als wollte wirklich neues leben aus den ruinen erblühen. man besann sich auch auf das herrliche vermächtnis der ahnen, in welchem man das palladium der gesittung nicht verkannte. die cultur des zwiesprachigen weltreiches, die doch die hellenische war, gewann expansiv eine starke kraft und viele treffliche männer in allen kreisen des lebens bemühten sich dem volke glauben und sitte und philosophie und die in der herrlichsten poesie be- schlossenen ideale zu erhalten. aber dem seelenleben seines volkes hatte 106) Er selbst schreibt an seinen sohn benignitas enim mea me ad caelestem gloriam efferet (Sueton Aug. 71): man entfernt sich also doch wol nicht von dem sinne des kaisers, wenn man den bericht, den er gleichzeitig über sein leben auf- zeichnet, unter diesem augenpunkte betrachtet.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 174. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/194>, abgerufen am 23.04.2024.