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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Geschichte des tragikertextes.
die Heraklessage auf grund der mythographen erzählt worden, mochte
auch für einzelne episoden ein drama, wie der Herakles des Euripides,
die Trachinierinnen des Sophokles, sich einschieben. existirt haben auch
nacherzählungen einzelner dramen, vielleicht in sammlungen, wie wir sie
von dem dichter Parthenios und Antoninus Liberalis besitzen, und sie
haben in der späteren zeit, als man die dramen nicht mehr las, ihre
bedeutung gehabt, sind uns natürlich sehr erwünscht 98). aber in der
grammatischen litteratur stehen sie auf der niedrigsten stufe.

Die lebhaftigkeit und die ausdehnung des interesses, welches die
sagen um die augusteische zeit fanden, zeigt sich durch nichts greifbarer,
als durch ihren einfluss auf die bildende kunst. denn lediglich dieses
interesse hat die industrie der tabulae Iliacae und was damit zusammen-
hängt erzeugt. diese, die besser tabulae Homericae heissen, wie sie ihr
verfertiger Theodoros genannt hat, und die farnesische apotheose des
Herakles gehören ganz und gar mit den mythographischen arbeiten zu-
sammen. dass die tragödie auch einen solchen plastischen niederschlag
gefunden hat, haben erst die letzten jahre gelehrt. in Tanagra sind
mehrere tönerne becher mit relief gefunden, auf denen scenen aus Ilias
und Iliupersis, der raub der Helena durch Theseus in ganz neuer form
und endlich eine reihe scenen der aulischen Iphigenia des Euripides dar-
gestellt sind, diese mit der inschrift Euripidou Iphigeneias 99). lehrt uns
dieses auch nichts, so nährt es doch die hoffnung.

Die mythographischen arbeiten, so wertvoll sie sonst sind, haben
für die textkritik keine bedeutung. die reste der tragike lexis würden
sie haben, wenn sie nicht so jämmerlich verstümmelt wären; doch be-
zeugen sie immer noch die ausdehnung der grammatischen tätigkeit über
das ganze gebiet der tragödie. dieses selbe lehrt ein anderes feld der
überlieferung und ermöglicht zugleich eine controlle unserer handschriften
in sehr ausgedehntem masse: die anthologien. die sitte, aus den dichtern

98) Es scheint, dass die rhetorenschulen sich ihrer bedient haben, wenigstens
haben wir durch späte rhetorische bücher die hypothesen von Auge Peirithoos Sthe-
neboia erhalten. die späten scholien zu Aristides verfügten über die des Protesilaos.
die des Syleus stand in dem oben s. 112 erwähnten litteraturgeschichtlichen buche.
die annahme aber, dass in späterer byzantinischer zeit eine solche sammlung noch
bestanden hätte, hat keinen boden unter den füssen.
99) Ephem. arkh. 1884, 59. 1887, 67, 197. die arbeit ist roh, die inschriften
teils unleserlich, teils auch falsch. in der Iphigeneia sind die scenen unvollständig.
von derselben art scheint ein bruchstück eines gefässes in London, das sich auf die
Phoenissen bezieht, Classical Review II 327. alles zeigt einen zustand vergleichbar
den ilischen tafeln: das einzelne exemplar ist immer nur ein excerpt.

Geschichte des tragikertextes.
die Heraklessage auf grund der mythographen erzählt worden, mochte
auch für einzelne episoden ein drama, wie der Herakles des Euripides,
die Trachinierinnen des Sophokles, sich einschieben. existirt haben auch
nacherzählungen einzelner dramen, vielleicht in sammlungen, wie wir sie
von dem dichter Parthenios und Antoninus Liberalis besitzen, und sie
haben in der späteren zeit, als man die dramen nicht mehr las, ihre
bedeutung gehabt, sind uns natürlich sehr erwünscht 98). aber in der
grammatischen litteratur stehen sie auf der niedrigsten stufe.

Die lebhaftigkeit und die ausdehnung des interesses, welches die
sagen um die augusteische zeit fanden, zeigt sich durch nichts greifbarer,
als durch ihren einfluſs auf die bildende kunst. denn lediglich dieses
interesse hat die industrie der tabulae Iliacae und was damit zusammen-
hängt erzeugt. diese, die besser tabulae Homericae heiſsen, wie sie ihr
verfertiger Theodoros genannt hat, und die farnesische apotheose des
Herakles gehören ganz und gar mit den mythographischen arbeiten zu-
sammen. daſs die tragödie auch einen solchen plastischen niederschlag
gefunden hat, haben erst die letzten jahre gelehrt. in Tanagra sind
mehrere tönerne becher mit relief gefunden, auf denen scenen aus Ilias
und Iliupersis, der raub der Helena durch Theseus in ganz neuer form
und endlich eine reihe scenen der aulischen Iphigenia des Euripides dar-
gestellt sind, diese mit der inschrift Εὐριπίδου Ἰφιγενείας 99). lehrt uns
dieses auch nichts, so nährt es doch die hoffnung.

Die mythographischen arbeiten, so wertvoll sie sonst sind, haben
für die textkritik keine bedeutung. die reste der τραγικὴ λέξις würden
sie haben, wenn sie nicht so jämmerlich verstümmelt wären; doch be-
zeugen sie immer noch die ausdehnung der grammatischen tätigkeit über
das ganze gebiet der tragödie. dieses selbe lehrt ein anderes feld der
überlieferung und ermöglicht zugleich eine controlle unserer handschriften
in sehr ausgedehntem maſse: die anthologien. die sitte, aus den dichtern

98) Es scheint, daſs die rhetorenschulen sich ihrer bedient haben, wenigstens
haben wir durch späte rhetorische bücher die hypothesen von Auge Peirithoos Sthe-
neboia erhalten. die späten scholien zu Aristides verfügten über die des Protesilaos.
die des Syleus stand in dem oben s. 112 erwähnten litteraturgeschichtlichen buche.
die annahme aber, daſs in späterer byzantinischer zeit eine solche sammlung noch
bestanden hätte, hat keinen boden unter den füſsen.
99) Ἐφήμ. ἀρχ. 1884, 59. 1887, 67, 197. die arbeit ist roh, die inschriften
teils unleserlich, teils auch falsch. in der Iphigeneia sind die scenen unvollständig.
von derselben art scheint ein bruchstück eines gefäſses in London, das sich auf die
Phoenissen bezieht, Classical Review II 327. alles zeigt einen zustand vergleichbar
den ilischen tafeln: das einzelne exemplar ist immer nur ein excerpt.
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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 170. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/190>, abgerufen am 16.04.2024.