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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Didymos.
anspruch auf einen hohen rang als erklärer oder kritiker. wie natürlich,
macht er hier denselben eindruck wie zum Pindar und Aristophanes. be-
sonderer scharfsinn ist nirgend zu loben, arge verkehrtheiten sind nicht
selten. verglichen mit den proben, die er von älteren erklärern gibt, mag
man ihm aber einen gewissen gesunden sinn zugestehen. was methodische
textkritik ist, ist ihm wol überhaupt nicht aufgegangen; seine minutiöse
reconstruction der aristarchischen textausgabe könnte das vermuten lassen,
aber abgesehen von der schulsuperstition, die nicht wenig mitwirkte, muss
man ohne zaudern zugestehen, dass Aristonikos ganz anders die aristar-
chische consequenz begriffen hat und ein besserer zeuge (nur nicht e silentio)
ist als Didymos. nicht besser bewährt er sich, wo er selbst textkritisch
vorgeht. bezeichnend ist in der tragödie vor allem das was er von den
schauspielern erzählt. dass sie die textverderber sind, weiss er offenbar
von den älteren erklärern, aber er hat von ihrer tätigkeit weder eine klare
vorstellung, noch gibt er sich die mühe, die vorwürfe, die er gegen sie
richtet, zu beweisen. er braucht die schauspieler vielmehr, wie man hübsch
gesagt hat 84), so wie moderne kritiker den sciolus magistellus, den proter-
vus interpolator
, als deus ex machina um kritische knoten zu durchhauen,
wenn er sie nicht lösen kann.

Trotzdem hat Didymos zwar keine epochemachende, aber doch eine
eminente geschichtliche bedeutung. er hat die ergebnisse der älteren
kritisch exegetischen arbeit zusammengefasst und auf die nachwelt ge-
bracht. die zeit für wirklich schöpferische gelehrte war längst vorbei:
die griechische nation producirte keine talente mehr, die weiter zu denken
fähig waren; das höchste was geleistet ward, war die erhaltung des schatzes
der älteren leistungen. aber dem was die zeit verlangte hat Didymos und
hat überhaupt die grammatik der augusteischen zeit, neben ihm vornehm-
lich Theon 85) und Seleukos 86), genug getan. und die anforderungen der

84) Bruhn lucubr. Eurip. 250, dessen verdienst es ist, die vorstellungen über
schauspieler und schauspielertexte von antiken und modernen fabeln gereinigt zu
haben.
85) Die persönlichkeit des mannes ist schwer zu fassen, da der name so sehr
gewöhnlich ist. aber die verbreitete ansicht scheint richtig, dass der sohn des Ari-
stophaneers Artemidoros, der zeitgenosse des Didymos, und der herausgeber der
Odyssee, und der der vornehmsten alexandrinischen dichter identisch sind; von anderem
minder wichtigem, z. b. der berufenen lexis komike, zu schweigen.
86) Dieser hofgelehrte des Tiberius, tätig noch unter Claudius, beginnt, seit
Maass die persönlichkeit identificirt hat (Phil. Unt. III 33), in seiner grossen bedeutung
mehr und mehr anerkannt zu werden. aber für die tragödie kommt es gar nicht in
betracht.
v. Wilamowitz I. 11

Didymos.
anspruch auf einen hohen rang als erklärer oder kritiker. wie natürlich,
macht er hier denselben eindruck wie zum Pindar und Aristophanes. be-
sonderer scharfsinn ist nirgend zu loben, arge verkehrtheiten sind nicht
selten. verglichen mit den proben, die er von älteren erklärern gibt, mag
man ihm aber einen gewissen gesunden sinn zugestehen. was methodische
textkritik ist, ist ihm wol überhaupt nicht aufgegangen; seine minutiöse
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aber abgesehen von der schulsuperstition, die nicht wenig mitwirkte, muſs
man ohne zaudern zugestehen, daſs Aristonikos ganz anders die aristar-
chische consequenz begriffen hat und ein besserer zeuge (nur nicht e silentio)
ist als Didymos. nicht besser bewährt er sich, wo er selbst textkritisch
vorgeht. bezeichnend ist in der tragödie vor allem das was er von den
schauspielern erzählt. daſs sie die textverderber sind, weiſs er offenbar
von den älteren erklärern, aber er hat von ihrer tätigkeit weder eine klare
vorstellung, noch gibt er sich die mühe, die vorwürfe, die er gegen sie
richtet, zu beweisen. er braucht die schauspieler vielmehr, wie man hübsch
gesagt hat 84), so wie moderne kritiker den sciolus magistellus, den proter-
vus interpolator
, als deus ex machina um kritische knoten zu durchhauen,
wenn er sie nicht lösen kann.

Trotzdem hat Didymos zwar keine epochemachende, aber doch eine
eminente geschichtliche bedeutung. er hat die ergebnisse der älteren
kritisch exegetischen arbeit zusammengefaſst und auf die nachwelt ge-
bracht. die zeit für wirklich schöpferische gelehrte war längst vorbei:
die griechische nation producirte keine talente mehr, die weiter zu denken
fähig waren; das höchste was geleistet ward, war die erhaltung des schatzes
der älteren leistungen. aber dem was die zeit verlangte hat Didymos und
hat überhaupt die grammatik der augusteischen zeit, neben ihm vornehm-
lich Theon 85) und Seleukos 86), genug getan. und die anforderungen der

84) Bruhn lucubr. Eurip. 250, dessen verdienst es ist, die vorstellungen über
schauspieler und schauspielertexte von antiken und modernen fabeln gereinigt zu
haben.
85) Die persönlichkeit des mannes ist schwer zu fassen, da der name so sehr
gewöhnlich ist. aber die verbreitete ansicht scheint richtig, daſs der sohn des Ari-
stophaneers Artemidoros, der zeitgenosse des Didymos, und der herausgeber der
Odyssee, und der der vornehmsten alexandrinischen dichter identisch sind; von anderem
minder wichtigem, z. b. der berufenen λέξις κωμική, zu schweigen.
86) Dieser hofgelehrte des Tiberius, tätig noch unter Claudius, beginnt, seit
Maaſs die persönlichkeit identificirt hat (Phil. Unt. III 33), in seiner groſsen bedeutung
mehr und mehr anerkannt zu werden. aber für die tragödie kommt es gar nicht in
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[161/0181] Didymos. anspruch auf einen hohen rang als erklärer oder kritiker. wie natürlich, macht er hier denselben eindruck wie zum Pindar und Aristophanes. be- sonderer scharfsinn ist nirgend zu loben, arge verkehrtheiten sind nicht selten. verglichen mit den proben, die er von älteren erklärern gibt, mag man ihm aber einen gewissen gesunden sinn zugestehen. was methodische textkritik ist, ist ihm wol überhaupt nicht aufgegangen; seine minutiöse reconstruction der aristarchischen textausgabe könnte das vermuten lassen, aber abgesehen von der schulsuperstition, die nicht wenig mitwirkte, muſs man ohne zaudern zugestehen, daſs Aristonikos ganz anders die aristar- chische consequenz begriffen hat und ein besserer zeuge (nur nicht e silentio) ist als Didymos. nicht besser bewährt er sich, wo er selbst textkritisch vorgeht. bezeichnend ist in der tragödie vor allem das was er von den schauspielern erzählt. daſs sie die textverderber sind, weiſs er offenbar von den älteren erklärern, aber er hat von ihrer tätigkeit weder eine klare vorstellung, noch gibt er sich die mühe, die vorwürfe, die er gegen sie richtet, zu beweisen. er braucht die schauspieler vielmehr, wie man hübsch gesagt hat 84), so wie moderne kritiker den sciolus magistellus, den proter- vus interpolator, als deus ex machina um kritische knoten zu durchhauen, wenn er sie nicht lösen kann. Trotzdem hat Didymos zwar keine epochemachende, aber doch eine eminente geschichtliche bedeutung. er hat die ergebnisse der älteren kritisch exegetischen arbeit zusammengefaſst und auf die nachwelt ge- bracht. die zeit für wirklich schöpferische gelehrte war längst vorbei: die griechische nation producirte keine talente mehr, die weiter zu denken fähig waren; das höchste was geleistet ward, war die erhaltung des schatzes der älteren leistungen. aber dem was die zeit verlangte hat Didymos und hat überhaupt die grammatik der augusteischen zeit, neben ihm vornehm- lich Theon 85) und Seleukos 86), genug getan. und die anforderungen der 84) Bruhn lucubr. Eurip. 250, dessen verdienst es ist, die vorstellungen über schauspieler und schauspielertexte von antiken und modernen fabeln gereinigt zu haben. 85) Die persönlichkeit des mannes ist schwer zu fassen, da der name so sehr gewöhnlich ist. aber die verbreitete ansicht scheint richtig, daſs der sohn des Ari- stophaneers Artemidoros, der zeitgenosse des Didymos, und der herausgeber der Odyssee, und der der vornehmsten alexandrinischen dichter identisch sind; von anderem minder wichtigem, z. b. der berufenen λέξις κωμική, zu schweigen. 86) Dieser hofgelehrte des Tiberius, tätig noch unter Claudius, beginnt, seit Maaſs die persönlichkeit identificirt hat (Phil. Unt. III 33), in seiner groſsen bedeutung mehr und mehr anerkannt zu werden. aber für die tragödie kommt es gar nicht in betracht. v. Wilamowitz I. 11

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 161. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/181>, abgerufen am 25.04.2024.