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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Geschichte des tragikertextes.
grundlegende ausgabe, die aristophanische, alles ältere definitiv beseitigt:
sie ist ganz und gar identisch mit der 'überlieferung' geworden, und nur
die erinnerung erhielt sich dunkel, dass es ältere texte gegeben hätte.
die geschichtliche bedeutung der aristophanischen tätigkeit ist also eine
ganz ungeheure. man denke sich, dass die wirkliche überlieferung des
Lucrez ganz zu grunde gienge und an ihre stelle der Lachmannsche text
träte, so dass gewissermassen Lachmann gleich Lucrez würde. in diesem
falle würden wir gar nicht weniges durch die conjectur oder auswahl
des herausgebers verderbt lesen, und dennoch würde es gegenüber der
verwüstung, die vor Lachmann im Lucreztexte herrschte, ein unschätz-
barer segen gewesen sein, dass ein zielbewusster wille durchgegriffen hätte.
müssten wir freilich Tibull und Properz mit Scaligers ausgabe indentificiren,
so würde die kritik nur zu dem negativen ergebnis gelangen können, dass
irgend ein willküract die gedichte aus den fugen gerissen hätte. von den
alexandrinischen gelehrten sind wir sicher, dass sie an methode und scharf-
sinn mit Lachmann nicht zu vergleichen waren, aber wir dürfen uns wol
auch darauf verlassen, dass sie diesen mangel durch grössere zurückhaltung
und selbstbescheidung zum teil ersetzt haben: Scaligersche willkür imputirt
ihnen nur, wer für die eigene die bahn frei haben will. Aristophanes
zumal ist schon durch die ungeheure ausdehnung seiner herausgebertätig-
keit von der conjecturalkritik zurückgehalten: ihm ist es gegangen wie
Immanuel Bekker, mit dem man ihn immer wieder vergleichen muss, den
er aber doch wol überragt. denn was ihm gelungen ist, ist etwas so
grossartiges, dass man kaum nach den tausend einzelheiten fragt, die man
nicht wissen kann, da die hauptsache sonnenklar ist, die für alle zukunft
massgebende codification der nationalen poesie, zu der mit recht auch
Platon gerechnet war. so etwas zu erreichen erfordert mehr als philo-
logie. es fordert die einsicht, dass auf die lösung der aufgabe mehr an-
kommt als auf die tausend bedenklichkeiten, ob es so oder so besser
wäre; den mut, dem besserwissen der faulen und undankbaren nachwelt
zu trotzen, die das gute gedankenlos nutzt und zugleich schilt, weil es
nicht das bessere ist; den sicheren nie zu lernenden blick für das
wesentliche; endlich die energie des willens, die durch die riesenhaftig-
keit der arbeit immer neu gestärkt wird. auch wenn Aristophanes ein
gewalttätiger kritiker gewesen wäre (solch einer löst freilich erfahrungs-
gemäss keine grossen aufgaben), so würde sein andenken gesegnet werden
müssen: und wir dürfen doch glauben, dass er ein kritiker wie Bekker war.

Ausgabe der
tragiker.

Dass Aristophanes für die tragiker dieselbe bedeutung hat wie für
die lyriker ist nicht überliefert. dennoch ist es ganz unzweifelhaft. vor

Geschichte des tragikertextes.
grundlegende ausgabe, die aristophanische, alles ältere definitiv beseitigt:
sie ist ganz und gar identisch mit der ‘überlieferung’ geworden, und nur
die erinnerung erhielt sich dunkel, daſs es ältere texte gegeben hätte.
die geschichtliche bedeutung der aristophanischen tätigkeit ist also eine
ganz ungeheure. man denke sich, daſs die wirkliche überlieferung des
Lucrez ganz zu grunde gienge und an ihre stelle der Lachmannsche text
träte, so daſs gewissermaſsen Lachmann gleich Lucrez würde. in diesem
falle würden wir gar nicht weniges durch die conjectur oder auswahl
des herausgebers verderbt lesen, und dennoch würde es gegenüber der
verwüstung, die vor Lachmann im Lucreztexte herrschte, ein unschätz-
barer segen gewesen sein, daſs ein zielbewuſster wille durchgegriffen hätte.
müſsten wir freilich Tibull und Properz mit Scaligers ausgabe indentificiren,
so würde die kritik nur zu dem negativen ergebnis gelangen können, daſs
irgend ein willküract die gedichte aus den fugen gerissen hätte. von den
alexandrinischen gelehrten sind wir sicher, daſs sie an methode und scharf-
sinn mit Lachmann nicht zu vergleichen waren, aber wir dürfen uns wol
auch darauf verlassen, daſs sie diesen mangel durch gröſsere zurückhaltung
und selbstbescheidung zum teil ersetzt haben: Scaligersche willkür imputirt
ihnen nur, wer für die eigene die bahn frei haben will. Aristophanes
zumal ist schon durch die ungeheure ausdehnung seiner herausgebertätig-
keit von der conjecturalkritik zurückgehalten: ihm ist es gegangen wie
Immanuel Bekker, mit dem man ihn immer wieder vergleichen muſs, den
er aber doch wol überragt. denn was ihm gelungen ist, ist etwas so
groſsartiges, daſs man kaum nach den tausend einzelheiten fragt, die man
nicht wissen kann, da die hauptsache sonnenklar ist, die für alle zukunft
maſsgebende codification der nationalen poesie, zu der mit recht auch
Platon gerechnet war. so etwas zu erreichen erfordert mehr als philo-
logie. es fordert die einsicht, daſs auf die lösung der aufgabe mehr an-
kommt als auf die tausend bedenklichkeiten, ob es so oder so besser
wäre; den mut, dem besserwissen der faulen und undankbaren nachwelt
zu trotzen, die das gute gedankenlos nutzt und zugleich schilt, weil es
nicht das bessere ist; den sicheren nie zu lernenden blick für das
wesentliche; endlich die energie des willens, die durch die riesenhaftig-
keit der arbeit immer neu gestärkt wird. auch wenn Aristophanes ein
gewalttätiger kritiker gewesen wäre (solch einer löst freilich erfahrungs-
gemäſs keine groſsen aufgaben), so würde sein andenken gesegnet werden
müssen: und wir dürfen doch glauben, daſs er ein kritiker wie Bekker war.

Ausgabe der
tragiker.

Daſs Aristophanes für die tragiker dieselbe bedeutung hat wie für
die lyriker ist nicht überliefert. dennoch ist es ganz unzweifelhaft. vor

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[144/0164] Geschichte des tragikertextes. grundlegende ausgabe, die aristophanische, alles ältere definitiv beseitigt: sie ist ganz und gar identisch mit der ‘überlieferung’ geworden, und nur die erinnerung erhielt sich dunkel, daſs es ältere texte gegeben hätte. die geschichtliche bedeutung der aristophanischen tätigkeit ist also eine ganz ungeheure. man denke sich, daſs die wirkliche überlieferung des Lucrez ganz zu grunde gienge und an ihre stelle der Lachmannsche text träte, so daſs gewissermaſsen Lachmann gleich Lucrez würde. in diesem falle würden wir gar nicht weniges durch die conjectur oder auswahl des herausgebers verderbt lesen, und dennoch würde es gegenüber der verwüstung, die vor Lachmann im Lucreztexte herrschte, ein unschätz- barer segen gewesen sein, daſs ein zielbewuſster wille durchgegriffen hätte. müſsten wir freilich Tibull und Properz mit Scaligers ausgabe indentificiren, so würde die kritik nur zu dem negativen ergebnis gelangen können, daſs irgend ein willküract die gedichte aus den fugen gerissen hätte. von den alexandrinischen gelehrten sind wir sicher, daſs sie an methode und scharf- sinn mit Lachmann nicht zu vergleichen waren, aber wir dürfen uns wol auch darauf verlassen, daſs sie diesen mangel durch gröſsere zurückhaltung und selbstbescheidung zum teil ersetzt haben: Scaligersche willkür imputirt ihnen nur, wer für die eigene die bahn frei haben will. Aristophanes zumal ist schon durch die ungeheure ausdehnung seiner herausgebertätig- keit von der conjecturalkritik zurückgehalten: ihm ist es gegangen wie Immanuel Bekker, mit dem man ihn immer wieder vergleichen muſs, den er aber doch wol überragt. denn was ihm gelungen ist, ist etwas so groſsartiges, daſs man kaum nach den tausend einzelheiten fragt, die man nicht wissen kann, da die hauptsache sonnenklar ist, die für alle zukunft maſsgebende codification der nationalen poesie, zu der mit recht auch Platon gerechnet war. so etwas zu erreichen erfordert mehr als philo- logie. es fordert die einsicht, daſs auf die lösung der aufgabe mehr an- kommt als auf die tausend bedenklichkeiten, ob es so oder so besser wäre; den mut, dem besserwissen der faulen und undankbaren nachwelt zu trotzen, die das gute gedankenlos nutzt und zugleich schilt, weil es nicht das bessere ist; den sicheren nie zu lernenden blick für das wesentliche; endlich die energie des willens, die durch die riesenhaftig- keit der arbeit immer neu gestärkt wird. auch wenn Aristophanes ein gewalttätiger kritiker gewesen wäre (solch einer löst freilich erfahrungs- gemäſs keine groſsen aufgaben), so würde sein andenken gesegnet werden müssen: und wir dürfen doch glauben, daſs er ein kritiker wie Bekker war. Daſs Aristophanes für die tragiker dieselbe bedeutung hat wie für die lyriker ist nicht überliefert. dennoch ist es ganz unzweifelhaft. vor

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 144. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/164>, abgerufen am 28.03.2024.