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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Geschichte des tragikertextes.
gegenwärtigen, und würden es einigermassen erschliessen aus den voraus-
setzungen und den folgen seines wirkens. so tun wir notgedrungen sehr
häufig: hier sind wir aber in der glücklichen lage mit einer benannten
grösse zu operiren.

Die Homerkritik der Alexandriner kennen wir am besten; natürlich
holt man sich aus ihr belehrung, aber es wird verhängnisvoll, wenn man
die unterschiede vergisst, welche zwischen ihr und der herausgebertätig-
keit vorhanden sein mussten, die den lyrikern tragikern komikern galt.
das hauptinteresse an den Homerausgaben des Aristophanes oder Aristarch
liegt für die späteren, welche uns über sie unterrichten, und für uns in
dem, was sie neues und eigenes enthielten, dem woran der name der
gelehrten haftete, besonderen lesarten, athetesen, grammatischen einzel-
beobachtungen, z. b. in betreff der prosodie wortabteilung orthographie.
die ausgabe erscheint als ein von dem gelehrten geschriebenes oder cor-
rigirtes exemplar mit kritischen und diakritischen zeichen, welche die
meinung des herausgebers andeuten, übrigens aber eine mündliche oder
schriftliche erläuterung fordern. es ist ein gelehrtes werk, wendet sich
an gelehrte kreise, wenn es überhaupt mehr als hypomnematisches leben
beansprucht. es ist aber keinesweges ausgemacht, dass die ausgabe wirk-
lich ausgegeben ward, ja es ist nicht einmal wahrscheinlich, da selbst
Aristarchs ausgaben so bald verschollen waren; ekdosis bedeutet bei den
grammatikern durchaus nur ein exemplar. wie sich die Homertexte, die im
buchhandel waren und blieben, dazu stellten, ist eine ganz andere frage.
notorisch ist der einfluss Aristarchs sehr gross gewesen, da wir nicht
nur viele seiner lesarten in unsern handschriften lesen, sondern auch
verse, die er ausgeworfen hat, verschwunden sind, verse die er erst ein-
gesetzt hat, sich vorfinden. man mag auch von vorn herein als wahr-
scheinlich betrachten, dass der kritiker selbst eine 'kleine textausgabe'
hat ausgehen lassen mögen. aber damit rechnen seine schüler nicht,
und ein buchhändlerisches bedürfnis, neue Homertexte zu schaffen, lag
auch nicht vor. gegen die correctheit seiner classikertexte ist das grosse
publicum ganz gleichgiltig; nur billig sollen sie sein.

Ganz anders steht es mit den anderen dichtern, z. b. Pindar, mit
welchem am besten exemplificirt wird, da hier die verhältnisse am durch-
sichtigsten sind und auch die tätigkeit des Aristophanes ganz ausdrück-
lich bezeugt ist. von Pindars werken hatte es noch gar keine ausgabe
gegeben. die gedichte hatten von vorn herein vereinzelt existirt; viele
oder wenige werden ja wol zusammengeschrieben sein, aber davon ver-
lautet nichts: man kennt vor der aristophanischen ausgabe nur die ver-

Geschichte des tragikertextes.
gegenwärtigen, und würden es einigermaſsen erschlieſsen aus den voraus-
setzungen und den folgen seines wirkens. so tun wir notgedrungen sehr
häufig: hier sind wir aber in der glücklichen lage mit einer benannten
gröſse zu operiren.

Die Homerkritik der Alexandriner kennen wir am besten; natürlich
holt man sich aus ihr belehrung, aber es wird verhängnisvoll, wenn man
die unterschiede vergiſst, welche zwischen ihr und der herausgebertätig-
keit vorhanden sein muſsten, die den lyrikern tragikern komikern galt.
das hauptinteresse an den Homerausgaben des Aristophanes oder Aristarch
liegt für die späteren, welche uns über sie unterrichten, und für uns in
dem, was sie neues und eigenes enthielten, dem woran der name der
gelehrten haftete, besonderen lesarten, athetesen, grammatischen einzel-
beobachtungen, z. b. in betreff der prosodie wortabteilung orthographie.
die ausgabe erscheint als ein von dem gelehrten geschriebenes oder cor-
rigirtes exemplar mit kritischen und diakritischen zeichen, welche die
meinung des herausgebers andeuten, übrigens aber eine mündliche oder
schriftliche erläuterung fordern. es ist ein gelehrtes werk, wendet sich
an gelehrte kreise, wenn es überhaupt mehr als hypomnematisches leben
beansprucht. es ist aber keinesweges ausgemacht, daſs die ausgabe wirk-
lich ausgegeben ward, ja es ist nicht einmal wahrscheinlich, da selbst
Aristarchs ausgaben so bald verschollen waren; ἔκδοσις bedeutet bei den
grammatikern durchaus nur ein exemplar. wie sich die Homertexte, die im
buchhandel waren und blieben, dazu stellten, ist eine ganz andere frage.
notorisch ist der einfluſs Aristarchs sehr groſs gewesen, da wir nicht
nur viele seiner lesarten in unsern handschriften lesen, sondern auch
verse, die er ausgeworfen hat, verschwunden sind, verse die er erst ein-
gesetzt hat, sich vorfinden. man mag auch von vorn herein als wahr-
scheinlich betrachten, daſs der kritiker selbst eine ‘kleine textausgabe’
hat ausgehen lassen mögen. aber damit rechnen seine schüler nicht,
und ein buchhändlerisches bedürfnis, neue Homertexte zu schaffen, lag
auch nicht vor. gegen die correctheit seiner classikertexte ist das groſse
publicum ganz gleichgiltig; nur billig sollen sie sein.

Ganz anders steht es mit den anderen dichtern, z. b. Pindar, mit
welchem am besten exemplificirt wird, da hier die verhältnisse am durch-
sichtigsten sind und auch die tätigkeit des Aristophanes ganz ausdrück-
lich bezeugt ist. von Pindars werken hatte es noch gar keine ausgabe
gegeben. die gedichte hatten von vorn herein vereinzelt existirt; viele
oder wenige werden ja wol zusammengeschrieben sein, aber davon ver-
lautet nichts: man kennt vor der aristophanischen ausgabe nur die ver-

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[138/0158] Geschichte des tragikertextes. gegenwärtigen, und würden es einigermaſsen erschlieſsen aus den voraus- setzungen und den folgen seines wirkens. so tun wir notgedrungen sehr häufig: hier sind wir aber in der glücklichen lage mit einer benannten gröſse zu operiren. Die Homerkritik der Alexandriner kennen wir am besten; natürlich holt man sich aus ihr belehrung, aber es wird verhängnisvoll, wenn man die unterschiede vergiſst, welche zwischen ihr und der herausgebertätig- keit vorhanden sein muſsten, die den lyrikern tragikern komikern galt. das hauptinteresse an den Homerausgaben des Aristophanes oder Aristarch liegt für die späteren, welche uns über sie unterrichten, und für uns in dem, was sie neues und eigenes enthielten, dem woran der name der gelehrten haftete, besonderen lesarten, athetesen, grammatischen einzel- beobachtungen, z. b. in betreff der prosodie wortabteilung orthographie. die ausgabe erscheint als ein von dem gelehrten geschriebenes oder cor- rigirtes exemplar mit kritischen und diakritischen zeichen, welche die meinung des herausgebers andeuten, übrigens aber eine mündliche oder schriftliche erläuterung fordern. es ist ein gelehrtes werk, wendet sich an gelehrte kreise, wenn es überhaupt mehr als hypomnematisches leben beansprucht. es ist aber keinesweges ausgemacht, daſs die ausgabe wirk- lich ausgegeben ward, ja es ist nicht einmal wahrscheinlich, da selbst Aristarchs ausgaben so bald verschollen waren; ἔκδοσις bedeutet bei den grammatikern durchaus nur ein exemplar. wie sich die Homertexte, die im buchhandel waren und blieben, dazu stellten, ist eine ganz andere frage. notorisch ist der einfluſs Aristarchs sehr groſs gewesen, da wir nicht nur viele seiner lesarten in unsern handschriften lesen, sondern auch verse, die er ausgeworfen hat, verschwunden sind, verse die er erst ein- gesetzt hat, sich vorfinden. man mag auch von vorn herein als wahr- scheinlich betrachten, daſs der kritiker selbst eine ‘kleine textausgabe’ hat ausgehen lassen mögen. aber damit rechnen seine schüler nicht, und ein buchhändlerisches bedürfnis, neue Homertexte zu schaffen, lag auch nicht vor. gegen die correctheit seiner classikertexte ist das groſse publicum ganz gleichgiltig; nur billig sollen sie sein. Ganz anders steht es mit den anderen dichtern, z. b. Pindar, mit welchem am besten exemplificirt wird, da hier die verhältnisse am durch- sichtigsten sind und auch die tätigkeit des Aristophanes ganz ausdrück- lich bezeugt ist. von Pindars werken hatte es noch gar keine ausgabe gegeben. die gedichte hatten von vorn herein vereinzelt existirt; viele oder wenige werden ja wol zusammengeschrieben sein, aber davon ver- lautet nichts: man kennt vor der aristophanischen ausgabe nur die ver-

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 138. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/158>, abgerufen am 25.04.2024.