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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Geschichte des tragikertextes.

Aber es blühte doch gerade in Alexandreia die tragische Pleias, und
die Alexandra des Lykophron gilt doch für eine nachahmung der tragödie,
so gut wie Theokrits Spindel die Sappho nachahmt. diese letzte verbreitete
ansicht ist falsch. die Alexandra ist keine tragödie, sondern ein iambos.
Lykophron, selbst verfasser von tragödien, hat die stilgesetze denn doch
zu gut gekannt, um diese poesie für tragisch auszugeben. es geschieht
nur durch einen für den modernen nahe liegenden irrtum, dass man
den unterschied in sprache und versmass verkennt, die menge von
ionismen in der form, der messung, der wortwahl ist ganz nicht zu ver-
treiben, und ihre vertreibung deshalb unglaubhaft 24). wahrlich auch für
die Byzantiner lag es näher die ihnen bekannten attischen formen einzu-
führen als die dialektischen. eine consequenz ist freilich bei Lykophron so
wenig wie bei Theokrit zu erzielen, und sehr viel fremdartiges hat der dich-
ter nur weil es fremdartig war herbeigezogen. der tragödie konnte sich
der tragische dichter natürlich am wenigsten entziehen, obwol schon der
sagenstoff zeigt, dass er es beabsichtigt hat. und dann gilt für die Alexandra
was für die wirklich tragische poesie der Alexandriner gilt und die be-
denken verscheucht, welche die Pleias erregen kann: sie suchen die älteste
tragödie auf, die den Attikern, gegen welche die Asianer front machen, so
fremd geworden war wie die andere chorische poesie auch. dieser neuen
romantik war schon Euripides viel zu modern, zu glatt, zu städtisch, zu
ähnlich den Isokrateern, die man überwinden wollte, die man überwunden
hat, wenn auch die eignen productionen kein längeres leben gehabt haben.
nichts ist bezeichnender, als dass man sich mit vorliebe auf das satyrspiel
warf, und was wir von der Pleias kennen so gut wie ausschliesslich satyr-
spielen angehört. die archaistische tendenz brauchen wir auch nicht einmal
selbst zu erschliessen: diese zeit redet, wie unsere romantik, beständig

studien dem Kallimachos zuschreibt. nur von einem grammatiker aus der ersten
hälfte des 3. jahrhunderts ist ein euripideisches zetema vorhanden, Lysanias schol.
Andr. 10, und da ist der name keineswegs sicher.
24) Der neueste herausgeber hat es versucht, und ich habe ihm zuerst zugestimmt,
aber die verlängerung eines anlautenden vocals durch tenuis cum liquida (z. b. 1056.
1250), die elision von ai (850, 1220), tokeos 1394 (so auch 451 Kukhreos) kat Tr. (374)
epalxies (292) karebareuntas (384) saosei (679) Ramphessi (598) u. dgl. viel zeigt,
dass es auch unerlaubt ist den ionischen vocalismus in stämmen wie Titenes eos,
und namentlich den dativen wie pollesin zu ändern. zuzugeben ist nur, dass erstens
die überlieferung in diesen dingen unzweifelhaft unzuverlässig ist, und dass Lyko-
phron keine consequenz hat: einen dorischen genetiv aita 461, paraiolixei 1094
bloxas 1327 und die schon von Aristophanes von Byzanz gerügten vulgarismen
eskhazosan, auch pephrikan, müssen wir ja doch auch ertragen.
Geschichte des tragikertextes.

Aber es blühte doch gerade in Alexandreia die tragische Pleias, und
die Alexandra des Lykophron gilt doch für eine nachahmung der tragödie,
so gut wie Theokrits Spindel die Sappho nachahmt. diese letzte verbreitete
ansicht ist falsch. die Alexandra ist keine tragödie, sondern ein iambos.
Lykophron, selbst verfasser von tragödien, hat die stilgesetze denn doch
zu gut gekannt, um diese poesie für tragisch auszugeben. es geschieht
nur durch einen für den modernen nahe liegenden irrtum, daſs man
den unterschied in sprache und versmaſs verkennt, die menge von
ionismen in der form, der messung, der wortwahl ist ganz nicht zu ver-
treiben, und ihre vertreibung deshalb unglaubhaft 24). wahrlich auch für
die Byzantiner lag es näher die ihnen bekannten attischen formen einzu-
führen als die dialektischen. eine consequenz ist freilich bei Lykophron so
wenig wie bei Theokrit zu erzielen, und sehr viel fremdartiges hat der dich-
ter nur weil es fremdartig war herbeigezogen. der tragödie konnte sich
der tragische dichter natürlich am wenigsten entziehen, obwol schon der
sagenstoff zeigt, daſs er es beabsichtigt hat. und dann gilt für die Alexandra
was für die wirklich tragische poesie der Alexandriner gilt und die be-
denken verscheucht, welche die Pleias erregen kann: sie suchen die älteste
tragödie auf, die den Attikern, gegen welche die Asianer front machen, so
fremd geworden war wie die andere chorische poesie auch. dieser neuen
romantik war schon Euripides viel zu modern, zu glatt, zu städtisch, zu
ähnlich den Isokrateern, die man überwinden wollte, die man überwunden
hat, wenn auch die eignen productionen kein längeres leben gehabt haben.
nichts ist bezeichnender, als daſs man sich mit vorliebe auf das satyrspiel
warf, und was wir von der Pleias kennen so gut wie ausschlieſslich satyr-
spielen angehört. die archaistische tendenz brauchen wir auch nicht einmal
selbst zu erschlieſsen: diese zeit redet, wie unsere romantik, beständig

studien dem Kallimachos zuschreibt. nur von einem grammatiker aus der ersten
hälfte des 3. jahrhunderts ist ein euripideisches ζήτημα vorhanden, Lysanias schol.
Andr. 10, und da ist der name keineswegs sicher.
24) Der neueste herausgeber hat es versucht, und ich habe ihm zuerst zugestimmt,
aber die verlängerung eines anlautenden vocals durch tenuis cum liquida (z. b. 1056.
1250), die elision von αι (850, 1220), τοκῆος 1394 (so auch 451 Κυχρῆος) κατ Τρ. (374)
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daſs es auch unerlaubt ist den ionischen vocalismus in stämmen wie Τιτῆνες ἠώς,
und namentlich den dativen wie πολλῆσιν zu ändern. zuzugeben ist nur, daſs erstens
die überlieferung in diesen dingen unzweifelhaft unzuverlässig ist, und daſs Lyko-
phron keine consequenz hat: einen dorischen genetiv ἀίτα 461, παραιολίξει 1094
βλώξας 1327 und die schon von Aristophanes von Byzanz gerügten vulgarismen
ἐσχάζοσαν, auch πέφρικαν, müssen wir ja doch auch ertragen.
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[136/0156] Geschichte des tragikertextes. Aber es blühte doch gerade in Alexandreia die tragische Pleias, und die Alexandra des Lykophron gilt doch für eine nachahmung der tragödie, so gut wie Theokrits Spindel die Sappho nachahmt. diese letzte verbreitete ansicht ist falsch. die Alexandra ist keine tragödie, sondern ein iambos. Lykophron, selbst verfasser von tragödien, hat die stilgesetze denn doch zu gut gekannt, um diese poesie für tragisch auszugeben. es geschieht nur durch einen für den modernen nahe liegenden irrtum, daſs man den unterschied in sprache und versmaſs verkennt, die menge von ionismen in der form, der messung, der wortwahl ist ganz nicht zu ver- treiben, und ihre vertreibung deshalb unglaubhaft 24). wahrlich auch für die Byzantiner lag es näher die ihnen bekannten attischen formen einzu- führen als die dialektischen. eine consequenz ist freilich bei Lykophron so wenig wie bei Theokrit zu erzielen, und sehr viel fremdartiges hat der dich- ter nur weil es fremdartig war herbeigezogen. der tragödie konnte sich der tragische dichter natürlich am wenigsten entziehen, obwol schon der sagenstoff zeigt, daſs er es beabsichtigt hat. und dann gilt für die Alexandra was für die wirklich tragische poesie der Alexandriner gilt und die be- denken verscheucht, welche die Pleias erregen kann: sie suchen die älteste tragödie auf, die den Attikern, gegen welche die Asianer front machen, so fremd geworden war wie die andere chorische poesie auch. dieser neuen romantik war schon Euripides viel zu modern, zu glatt, zu städtisch, zu ähnlich den Isokrateern, die man überwinden wollte, die man überwunden hat, wenn auch die eignen productionen kein längeres leben gehabt haben. nichts ist bezeichnender, als daſs man sich mit vorliebe auf das satyrspiel warf, und was wir von der Pleias kennen so gut wie ausschlieſslich satyr- spielen angehört. die archaistische tendenz brauchen wir auch nicht einmal selbst zu erschlieſsen: diese zeit redet, wie unsere romantik, beständig 23) 24) Der neueste herausgeber hat es versucht, und ich habe ihm zuerst zugestimmt, aber die verlängerung eines anlautenden vocals durch tenuis cum liquida (z. b. 1056. 1250), die elision von αι (850, 1220), τοκῆος 1394 (so auch 451 Κυχρῆος) κατ Τρ. (374) ἐπάλξιες (292) καρηβαρεῦντας (384) σαώσει (679) ῥάμφεσσι (598) u. dgl. viel zeigt, daſs es auch unerlaubt ist den ionischen vocalismus in stämmen wie Τιτῆνες ἠώς, und namentlich den dativen wie πολλῆσιν zu ändern. zuzugeben ist nur, daſs erstens die überlieferung in diesen dingen unzweifelhaft unzuverlässig ist, und daſs Lyko- phron keine consequenz hat: einen dorischen genetiv ἀίτα 461, παραιολίξει 1094 βλώξας 1327 und die schon von Aristophanes von Byzanz gerügten vulgarismen ἐσχάζοσαν, auch πέφρικαν, müssen wir ja doch auch ertragen. 23) studien dem Kallimachos zuschreibt. nur von einem grammatiker aus der ersten hälfte des 3. jahrhunderts ist ein euripideisches ζήτημα vorhanden, Lysanias schol. Andr. 10, und da ist der name keineswegs sicher.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 136. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/156>, abgerufen am 20.04.2024.