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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Geschichte des tragikertextes.
weg auf philologisch-grammatische behandlung der litteraturwerke oder
der sprache und verskunst hat niemand in dieser schule eingeschlagen. die
anregung zur poetischen production, welche sie gab, kam der komödie
zu gute, die zu den biologischen tendenzen der aristotelischen ethik und
politik besser passt. und auffallender weise beteiligte sich an den specula-
tionen über diese zeitgenössische dichtungsart auch die sonst litterarischen
fragen ganz entfremdete akademie 21). nebenher war natürlich die clas-
sische poesie in einer ausdehnung bekannt wie niemals später, und die
gescheidten leute redeten auch über sie sehr gescheidt. die philosophen-
biographieen des Antigonos verzeichnen von ihren helden auch die lieb-
lingsdichter und manches litterarische urteil. aber das verdichtet sich
nirgend zur wissenschaftlichen arbeit.

Das dritte
jahrhundert.

Den weg zur philologie und grammatik hat nicht Athen gefunden,
sondern Ionien. schon einmal, zu Demokritos zeiten, war es auf dem
wege gewesen, ward aber durch die athenische begriffsphilosophie ge-
hemmt. jetzt ward das ziel erreicht, aber man strebte ihm nicht un-
mittelbar zu. es führte nur dahin der umweg über die poesie, weil man
aus opposition gegen Athen und seine cultur auf die vorattischen gat-
tungen und formen zurückgriff, die sich nur noch durch studium erreichen
liessen. diese opposition, die sehr verschiedene elemente in sich schloss,
galt der attischen weltsprache: daher das aufkommen der dialektdichtung;
der attischen bis zum extrem wählerisch und feinhörig gewordenen rhetorik:

21) Das schulhaupt Krates schrieb über die komödie nach Apollodors chronik
(Diog. IV 23); nach Philodem (bei Gomperz festgabe für Zeller 149) ward die schrift
einem seiner schüler Eumenes zugeschrieben. durch vermittelung der mousike istoria
des Aelius Dionysius ist ein schwacher rest dieser lehre zu den Byzantinern gelangt,
in dem traktat über den oben s. 112, Philol. 46, 13. das citat ist kata Dionusion
kai Krateta kai Eukleiden, wozu eine handschrift isos Eubouliden notirt. es
liegt nahe Eukleides und Eumenes zu identificiren. ob eine weitere ausscheidung
des alten gutes in jenen confusen excerpten möglich ist, steht dahin. ein schluss
ist aber unabhängig davon möglich. Aristoteles kennt, wie er es nur konnte, zwei
komödien, arkhaia und nea. seine schüler hatten keine neigung zu dissentiren, und
so hat sich diese lehre sehr lange gehalten und liegt noch vielfach vor. daneben
gibt es die jetzt törichter weise vielfach verlassene doctrin von drei komödien, von
denen die mese ursprünglich begrifflich gemeint ist, nicht zeitlich, denn ihr haupt-
vertreter ist Platon, und Alexis gehört ihr auch an: sie wird also 420 und 270, neben
Aristophanes und nach Menander, geübt. diese lehre begegnet für uns zuerst
bei Horaz sat. II 3, 11, dann herrscht sie vor, meist jedoch in der verkehrten chro-
nologischen umdeutung. so auch in den byzantinischen excerpten peri komodias.
es liegt sehr nahe dem Aristoteles den Krates entgegenzustellen, und wer konnte
eher als ein zeitgenosse der wirklich neuen menandrischen komödie auf diese ver-
besserung der aristotelischen lehre verfallen?

Geschichte des tragikertextes.
weg auf philologisch-grammatische behandlung der litteraturwerke oder
der sprache und verskunst hat niemand in dieser schule eingeschlagen. die
anregung zur poetischen production, welche sie gab, kam der komödie
zu gute, die zu den biologischen tendenzen der aristotelischen ethik und
politik besser paſst. und auffallender weise beteiligte sich an den specula-
tionen über diese zeitgenössische dichtungsart auch die sonst litterarischen
fragen ganz entfremdete akademie 21). nebenher war natürlich die clas-
sische poesie in einer ausdehnung bekannt wie niemals später, und die
gescheidten leute redeten auch über sie sehr gescheidt. die philosophen-
biographieen des Antigonos verzeichnen von ihren helden auch die lieb-
lingsdichter und manches litterarische urteil. aber das verdichtet sich
nirgend zur wissenschaftlichen arbeit.

Das dritte
jahrhundert.

Den weg zur philologie und grammatik hat nicht Athen gefunden,
sondern Ionien. schon einmal, zu Demokritos zeiten, war es auf dem
wege gewesen, ward aber durch die athenische begriffsphilosophie ge-
hemmt. jetzt ward das ziel erreicht, aber man strebte ihm nicht un-
mittelbar zu. es führte nur dahin der umweg über die poesie, weil man
aus opposition gegen Athen und seine cultur auf die vorattischen gat-
tungen und formen zurückgriff, die sich nur noch durch studium erreichen
lieſsen. diese opposition, die sehr verschiedene elemente in sich schloſs,
galt der attischen weltsprache: daher das aufkommen der dialektdichtung;
der attischen bis zum extrem wählerisch und feinhörig gewordenen rhetorik:

21) Das schulhaupt Krates schrieb über die komödie nach Apollodors chronik
(Diog. IV 23); nach Philodem (bei Gomperz festgabe für Zeller 149) ward die schrift
einem seiner schüler Εὐμένης zugeschrieben. durch vermittelung der μουσικὴ ἱστορία
des Aelius Dionysius ist ein schwacher rest dieser lehre zu den Byzantinern gelangt,
in dem traktat über den oben s. 112, Philol. 46, 13. das citat ist κατὰ Διονύσιον
καὶ Κράτητα καὶ Εὐκλείδην, wozu eine handschrift ἴσως Εὐβουλίδην notirt. es
liegt nahe Εὐκλείδης und Εὐμένης zu identificiren. ob eine weitere ausscheidung
des alten gutes in jenen confusen excerpten möglich ist, steht dahin. ein schluſs
ist aber unabhängig davon möglich. Aristoteles kennt, wie er es nur konnte, zwei
komödien, ἀρχαία und νέα. seine schüler hatten keine neigung zu dissentiren, und
so hat sich diese lehre sehr lange gehalten und liegt noch vielfach vor. daneben
gibt es die jetzt törichter weise vielfach verlassene doctrin von drei komödien, von
denen die μέση ursprünglich begrifflich gemeint ist, nicht zeitlich, denn ihr haupt-
vertreter ist Platon, und Alexis gehört ihr auch an: sie wird also 420 und 270, neben
Aristophanes und nach Menander, geübt. diese lehre begegnet für uns zuerst
bei Horaz sat. II 3, 11, dann herrscht sie vor, meist jedoch in der verkehrten chro-
nologischen umdeutung. so auch in den byzantinischen excerpten περὶ κωμῳδίας.
es liegt sehr nahe dem Aristoteles den Krates entgegenzustellen, und wer konnte
eher als ein zeitgenosse der wirklich neuen menandrischen komödie auf diese ver-
besserung der aristotelischen lehre verfallen?
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[134/0154] Geschichte des tragikertextes. weg auf philologisch-grammatische behandlung der litteraturwerke oder der sprache und verskunst hat niemand in dieser schule eingeschlagen. die anregung zur poetischen production, welche sie gab, kam der komödie zu gute, die zu den biologischen tendenzen der aristotelischen ethik und politik besser paſst. und auffallender weise beteiligte sich an den specula- tionen über diese zeitgenössische dichtungsart auch die sonst litterarischen fragen ganz entfremdete akademie 21). nebenher war natürlich die clas- sische poesie in einer ausdehnung bekannt wie niemals später, und die gescheidten leute redeten auch über sie sehr gescheidt. die philosophen- biographieen des Antigonos verzeichnen von ihren helden auch die lieb- lingsdichter und manches litterarische urteil. aber das verdichtet sich nirgend zur wissenschaftlichen arbeit. Den weg zur philologie und grammatik hat nicht Athen gefunden, sondern Ionien. schon einmal, zu Demokritos zeiten, war es auf dem wege gewesen, ward aber durch die athenische begriffsphilosophie ge- hemmt. jetzt ward das ziel erreicht, aber man strebte ihm nicht un- mittelbar zu. es führte nur dahin der umweg über die poesie, weil man aus opposition gegen Athen und seine cultur auf die vorattischen gat- tungen und formen zurückgriff, die sich nur noch durch studium erreichen lieſsen. diese opposition, die sehr verschiedene elemente in sich schloſs, galt der attischen weltsprache: daher das aufkommen der dialektdichtung; der attischen bis zum extrem wählerisch und feinhörig gewordenen rhetorik: 21) Das schulhaupt Krates schrieb über die komödie nach Apollodors chronik (Diog. IV 23); nach Philodem (bei Gomperz festgabe für Zeller 149) ward die schrift einem seiner schüler Εὐμένης zugeschrieben. durch vermittelung der μουσικὴ ἱστορία des Aelius Dionysius ist ein schwacher rest dieser lehre zu den Byzantinern gelangt, in dem traktat über den oben s. 112, Philol. 46, 13. das citat ist κατὰ Διονύσιον καὶ Κράτητα καὶ Εὐκλείδην, wozu eine handschrift ἴσως Εὐβουλίδην notirt. es liegt nahe Εὐκλείδης und Εὐμένης zu identificiren. ob eine weitere ausscheidung des alten gutes in jenen confusen excerpten möglich ist, steht dahin. ein schluſs ist aber unabhängig davon möglich. Aristoteles kennt, wie er es nur konnte, zwei komödien, ἀρχαία und νέα. seine schüler hatten keine neigung zu dissentiren, und so hat sich diese lehre sehr lange gehalten und liegt noch vielfach vor. daneben gibt es die jetzt törichter weise vielfach verlassene doctrin von drei komödien, von denen die μέση ursprünglich begrifflich gemeint ist, nicht zeitlich, denn ihr haupt- vertreter ist Platon, und Alexis gehört ihr auch an: sie wird also 420 und 270, neben Aristophanes und nach Menander, geübt. diese lehre begegnet für uns zuerst bei Horaz sat. II 3, 11, dann herrscht sie vor, meist jedoch in der verkehrten chro- nologischen umdeutung. so auch in den byzantinischen excerpten περὶ κωμῳδίας. es liegt sehr nahe dem Aristoteles den Krates entgegenzustellen, und wer konnte eher als ein zeitgenosse der wirklich neuen menandrischen komödie auf diese ver- besserung der aristotelischen lehre verfallen?

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 134. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/154>, abgerufen am 18.04.2024.