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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Aesthetische kritik.
die aesthetische kritik und die exegese Homers erwachsen. auch sie über-
trug sich auf die tragiker. wir können nur mutmassen und vereinzelt
an der sagenkritik erweisen, dass die Kyniker neben dem epos auch das
drama berücksichtigt haben. um ihrer selbst willen haben erst Platons
schüler Herakleides und Aristoteles die aesthetische kritik getrieben; die
poetik, zu welcher letzterer emporzusteigen wagte, zeigt besser als alles
andere die centrale stellung des dramas. aber Aristoteles machte wie
überhaupt der rhetorik, so auch der rhetorischen tragödie starke zuge-
ständnisse, trübte dadurch die theorie und hat trotzdem weder einen
dichter noch einen redner erzogen. dass er auch aporemata Euripidou
geschrieben hat, wissen wir durch die schriftentafel des Hesychios (no. 144
= Hermippos 119), und mögen sie uns als historische probleme denken,
wie eines in einem dialoge behandelt war (Eur. Meleag. 534). viel-
leicht ist ein oder das andere zetema, an dem sich in den scholien
die Alexandriner versuchen, schon am zechtische des peripatos aufge-
worfen worden. denn hier bewahrte man die neigung für philologa,
wenn man auch nur den namen der philologie erzeugt hat. Theo-
phrastos popularisirte die aristotelische rhetorik und poetik. neben ihm
setzten viele die litterargeschichtlichen arbeiten fort, und Dikaiarchos,
weitaus der bedeutendste dieser generation, knüpfte zugleich auch an
Herakleides an. indem er den aesthetischen massstab der poetik an die
einzelnen tragödien anlegte, untersuchte er die upothesis, d. h. den dem
gedichte zu grunde liegenden stoff, den muthos, sowol im sinne der
'handlung', in welcher Aristoteles mit recht den lebensnerv des dramas
gesehen hatte, als im sinne der geschichte. damit war die frage aufge-
worfen, woher denn der dichter seinen stoff genommen hätte, also die
quellenfrage, die uns moderne so viel beschäftigen muss 19), und wie merk-
würdige dinge dabei ermittelt werden, zeigt die zurückführung des euri-
pideischen Phoinix auf eine attische dorfsage durch den Rhodier Hierony-
mos 20). der ansatz zu einer lösung der grossen geschichtlichen aufgabe war
da. aber als erst ein naturwissenschaftler und dann ein schönredner die
schulleitung des peripatos übernahm, verdorrte die blüte. den rechten

19) Dass dies die tätigkeit des Dikaiarchos war und upothesis also eigentlich
den stoff bezeichnet, aus dem das drama gemacht ist, hat H. Schrader gezeigt (quae-
stiones peripateticae
Hamburg 1884). früher hatte man einen durch die gewöhn-
lichen confusionen im Suidaslexicon erzeugten Lakedaemonier Dikaiarchos, den es
nie gegeben hat, fälschlich eingemischt und upothesis als excerpt aus dem drama
im stile von Lambs tales from Skakespeare gefasst.
20) Vgl. oben s. 38.

Aesthetische kritik.
die aesthetische kritik und die exegese Homers erwachsen. auch sie über-
trug sich auf die tragiker. wir können nur mutmaſsen und vereinzelt
an der sagenkritik erweisen, daſs die Kyniker neben dem epos auch das
drama berücksichtigt haben. um ihrer selbst willen haben erst Platons
schüler Herakleides und Aristoteles die aesthetische kritik getrieben; die
poetik, zu welcher letzterer emporzusteigen wagte, zeigt besser als alles
andere die centrale stellung des dramas. aber Aristoteles machte wie
überhaupt der rhetorik, so auch der rhetorischen tragödie starke zuge-
ständnisse, trübte dadurch die theorie und hat trotzdem weder einen
dichter noch einen redner erzogen. daſs er auch ἀπορήματα Εὐριπίδου
geschrieben hat, wissen wir durch die schriftentafel des Hesychios (no. 144
= Hermippos 119), und mögen sie uns als historische probleme denken,
wie eines in einem dialoge behandelt war (Eur. Meleag. 534). viel-
leicht ist ein oder das andere ζήτημα, an dem sich in den scholien
die Alexandriner versuchen, schon am zechtische des peripatos aufge-
worfen worden. denn hier bewahrte man die neigung für φιλόλογα,
wenn man auch nur den namen der philologie erzeugt hat. Theo-
phrastos popularisirte die aristotelische rhetorik und poetik. neben ihm
setzten viele die litterargeschichtlichen arbeiten fort, und Dikaiarchos,
weitaus der bedeutendste dieser generation, knüpfte zugleich auch an
Herakleides an. indem er den aesthetischen maſsstab der poetik an die
einzelnen tragödien anlegte, untersuchte er die ὑπόϑεσις, d. h. den dem
gedichte zu grunde liegenden stoff, den μῦϑος, sowol im sinne der
‘handlung’, in welcher Aristoteles mit recht den lebensnerv des dramas
gesehen hatte, als im sinne der geschichte. damit war die frage aufge-
worfen, woher denn der dichter seinen stoff genommen hätte, also die
quellenfrage, die uns moderne so viel beschäftigen muſs 19), und wie merk-
würdige dinge dabei ermittelt werden, zeigt die zurückführung des euri-
pideischen Phoinix auf eine attische dorfsage durch den Rhodier Hierony-
mos 20). der ansatz zu einer lösung der groſsen geschichtlichen aufgabe war
da. aber als erst ein naturwissenschaftler und dann ein schönredner die
schulleitung des peripatos übernahm, verdorrte die blüte. den rechten

19) Daſs dies die tätigkeit des Dikaiarchos war und ὑπόϑεσις also eigentlich
den stoff bezeichnet, aus dem das drama gemacht ist, hat H. Schrader gezeigt (quae-
stiones peripateticae
Hamburg 1884). früher hatte man einen durch die gewöhn-
lichen confusionen im Suidaslexicon erzeugten Lakedaemonier Dikaiarchos, den es
nie gegeben hat, fälschlich eingemischt und ὑπόϑεσις als excerpt aus dem drama
im stile von Lambs tales from Skakespeare gefaſst.
20) Vgl. oben s. 38.
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[133/0153] Aesthetische kritik. die aesthetische kritik und die exegese Homers erwachsen. auch sie über- trug sich auf die tragiker. wir können nur mutmaſsen und vereinzelt an der sagenkritik erweisen, daſs die Kyniker neben dem epos auch das drama berücksichtigt haben. um ihrer selbst willen haben erst Platons schüler Herakleides und Aristoteles die aesthetische kritik getrieben; die poetik, zu welcher letzterer emporzusteigen wagte, zeigt besser als alles andere die centrale stellung des dramas. aber Aristoteles machte wie überhaupt der rhetorik, so auch der rhetorischen tragödie starke zuge- ständnisse, trübte dadurch die theorie und hat trotzdem weder einen dichter noch einen redner erzogen. daſs er auch ἀπορήματα Εὐριπίδου geschrieben hat, wissen wir durch die schriftentafel des Hesychios (no. 144 = Hermippos 119), und mögen sie uns als historische probleme denken, wie eines in einem dialoge behandelt war (Eur. Meleag. 534). viel- leicht ist ein oder das andere ζήτημα, an dem sich in den scholien die Alexandriner versuchen, schon am zechtische des peripatos aufge- worfen worden. denn hier bewahrte man die neigung für φιλόλογα, wenn man auch nur den namen der philologie erzeugt hat. Theo- phrastos popularisirte die aristotelische rhetorik und poetik. neben ihm setzten viele die litterargeschichtlichen arbeiten fort, und Dikaiarchos, weitaus der bedeutendste dieser generation, knüpfte zugleich auch an Herakleides an. indem er den aesthetischen maſsstab der poetik an die einzelnen tragödien anlegte, untersuchte er die ὑπόϑεσις, d. h. den dem gedichte zu grunde liegenden stoff, den μῦϑος, sowol im sinne der ‘handlung’, in welcher Aristoteles mit recht den lebensnerv des dramas gesehen hatte, als im sinne der geschichte. damit war die frage aufge- worfen, woher denn der dichter seinen stoff genommen hätte, also die quellenfrage, die uns moderne so viel beschäftigen muſs 19), und wie merk- würdige dinge dabei ermittelt werden, zeigt die zurückführung des euri- pideischen Phoinix auf eine attische dorfsage durch den Rhodier Hierony- mos 20). der ansatz zu einer lösung der groſsen geschichtlichen aufgabe war da. aber als erst ein naturwissenschaftler und dann ein schönredner die schulleitung des peripatos übernahm, verdorrte die blüte. den rechten 19) Daſs dies die tätigkeit des Dikaiarchos war und ὑπόϑεσις also eigentlich den stoff bezeichnet, aus dem das drama gemacht ist, hat H. Schrader gezeigt (quae- stiones peripateticae Hamburg 1884). früher hatte man einen durch die gewöhn- lichen confusionen im Suidaslexicon erzeugten Lakedaemonier Dikaiarchos, den es nie gegeben hat, fälschlich eingemischt und ὑπόϑεσις als excerpt aus dem drama im stile von Lambs tales from Skakespeare gefaſst. 20) Vgl. oben s. 38.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 133. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/153>, abgerufen am 19.04.2024.