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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Erste periode der textgeschichte.
nicht zu denken, sintemal die bücher zum lesen bestimmt waren. alles zu-
sammen genommen ist das aussehen von steinschriften gleicher zeit, die
buchstabenformen abgerechnet 14), gar nicht sehr verschieden zu denken,
und es gehörte eine sehr ansehnliche vorbildung dazu diese bücher vom
blatt zu lesen.

Zwei volle jahrhunderte hat der tragikertext sich in dieser weise
ohne grammatische controlle durch den buchhandel fortgepflanzt. welchen
fährlichkeiten er dabei ausgesetzt war, dem ist es müssig nachzudenken, da
das nicht gewusst werden kann, was man vorab wissen müsste, die praxis
in der herstellung und dem vertriebe der bücher. dass man nicht eine
fürchterliche verwüstung mit notwendigkeit aus der handschriftlichen ver-
vielfältigung ableiten darf, lehrt die vorzügliche erhaltung, in welcher
notorisch die hauptschriftsteller des 4. und 3. jahrhunderts vorliegen,
Platon Isokrates Demosthenes, Lykophron Aratos Kallimachos. die klagen
über fahrlässige schreiber, welche in der kaiserzeit und einzeln schon
früher ertönen, sind eben so wenig beweiskräftig wie etwa moderne ana-
logien, die ältesten drucke Shakespeares und die verwüstung des Goethe-
schen textes in den späteren Cottaschen drucken. aber auch für die zu-
verlässigkeit der überlieferung in dieser ersten periode der textgeschichte
sind allgemeine erwägungen nur in so weit triftig, als die tragödie durch
die feste buchform wenigstens gegen die zerstörung geschützt war, welche
die hypomnematische litteratur nachweislich betroffen hat und betreffen
musste. der traurige zustand, in welchem schriften wie die hippokra-
tischen peri euskhemosunes, peri phusios anthropou, die dialexeis
skeptikai, die schrift vom staate der Athener, die schrift des Aineas
von Stymphalos über belagerungen, vorliegen, muss im wesentlichen
schon in diesen jahrhunderten eingetreten sein. die einen unter diesen
sind nur durch einen glücklichen zufall überhaupt in die zeiten ge-
rettet worden, welche sich die conservirung der alten litteratur bewusst
zur aufgabe machten. irgend ein litterator des vierten jahrhunderts hatte
sich an die Xenophontische schrift vom staate der Lakedaimonier von
dem altattischen pamphlete so viel hinzugeschrieben, wie er vorfand
oder wie ihm beliebte. die ärztlichen und die kriegswissenschaftlichen
schriften aber waren nach bedürfnis ohne rücksicht auf die form von

sonenwechsel gar nicht. daneben wandte man den doppelpunkt in der zeile an,
der aber auch oft fehlt (Porphyr. zu Horaz sat. I 9, 52. Rothstein qu. Lucian. 18) und
z. b. im Laur. C des Euripides zur bezeichnung der rhythmischen kala verwandt wird.
14) Die formen stellt man sich am besten etwa so vor wie auf dem ältesten
erhaltenen papyrus, wahrscheinlich noch aus dem 4. jahrhundert. Blass Philol. 41, 746.
v. Wilamowitz I. 9

Erste periode der textgeschichte.
nicht zu denken, sintemal die bücher zum lesen bestimmt waren. alles zu-
sammen genommen ist das aussehen von steinschriften gleicher zeit, die
buchstabenformen abgerechnet 14), gar nicht sehr verschieden zu denken,
und es gehörte eine sehr ansehnliche vorbildung dazu diese bücher vom
blatt zu lesen.

Zwei volle jahrhunderte hat der tragikertext sich in dieser weise
ohne grammatische controlle durch den buchhandel fortgepflanzt. welchen
fährlichkeiten er dabei ausgesetzt war, dem ist es müſsig nachzudenken, da
das nicht gewuſst werden kann, was man vorab wissen müſste, die praxis
in der herstellung und dem vertriebe der bücher. daſs man nicht eine
fürchterliche verwüstung mit notwendigkeit aus der handschriftlichen ver-
vielfältigung ableiten darf, lehrt die vorzügliche erhaltung, in welcher
notorisch die hauptschriftsteller des 4. und 3. jahrhunderts vorliegen,
Platon Isokrates Demosthenes, Lykophron Aratos Kallimachos. die klagen
über fahrlässige schreiber, welche in der kaiserzeit und einzeln schon
früher ertönen, sind eben so wenig beweiskräftig wie etwa moderne ana-
logien, die ältesten drucke Shakespeares und die verwüstung des Goethe-
schen textes in den späteren Cottaschen drucken. aber auch für die zu-
verlässigkeit der überlieferung in dieser ersten periode der textgeschichte
sind allgemeine erwägungen nur in so weit triftig, als die tragödie durch
die feste buchform wenigstens gegen die zerstörung geschützt war, welche
die hypomnematische litteratur nachweislich betroffen hat und betreffen
muſste. der traurige zustand, in welchem schriften wie die hippokra-
tischen περὶ εὐσχημοσύνης, περὶ φύσιος ἀνϑρώπου, die διαλέξεις
σκεπτικαί, die schrift vom staate der Athener, die schrift des Aineas
von Stymphalos über belagerungen, vorliegen, muſs im wesentlichen
schon in diesen jahrhunderten eingetreten sein. die einen unter diesen
sind nur durch einen glücklichen zufall überhaupt in die zeiten ge-
rettet worden, welche sich die conservirung der alten litteratur bewuſst
zur aufgabe machten. irgend ein litterator des vierten jahrhunderts hatte
sich an die Xenophontische schrift vom staate der Lakedaimonier von
dem altattischen pamphlete so viel hinzugeschrieben, wie er vorfand
oder wie ihm beliebte. die ärztlichen und die kriegswissenschaftlichen
schriften aber waren nach bedürfnis ohne rücksicht auf die form von

sonenwechsel gar nicht. daneben wandte man den doppelpunkt in der zeile an,
der aber auch oft fehlt (Porphyr. zu Horaz sat. I 9, 52. Rothstein qu. Lucian. 18) und
z. b. im Laur. C des Euripides zur bezeichnung der rhythmischen κᾶλα verwandt wird.
14) Die formen stellt man sich am besten etwa so vor wie auf dem ältesten
erhaltenen papyrus, wahrscheinlich noch aus dem 4. jahrhundert. Blass Philol. 41, 746.
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[129/0149] Erste periode der textgeschichte. nicht zu denken, sintemal die bücher zum lesen bestimmt waren. alles zu- sammen genommen ist das aussehen von steinschriften gleicher zeit, die buchstabenformen abgerechnet 14), gar nicht sehr verschieden zu denken, und es gehörte eine sehr ansehnliche vorbildung dazu diese bücher vom blatt zu lesen. Zwei volle jahrhunderte hat der tragikertext sich in dieser weise ohne grammatische controlle durch den buchhandel fortgepflanzt. welchen fährlichkeiten er dabei ausgesetzt war, dem ist es müſsig nachzudenken, da das nicht gewuſst werden kann, was man vorab wissen müſste, die praxis in der herstellung und dem vertriebe der bücher. daſs man nicht eine fürchterliche verwüstung mit notwendigkeit aus der handschriftlichen ver- vielfältigung ableiten darf, lehrt die vorzügliche erhaltung, in welcher notorisch die hauptschriftsteller des 4. und 3. jahrhunderts vorliegen, Platon Isokrates Demosthenes, Lykophron Aratos Kallimachos. die klagen über fahrlässige schreiber, welche in der kaiserzeit und einzeln schon früher ertönen, sind eben so wenig beweiskräftig wie etwa moderne ana- logien, die ältesten drucke Shakespeares und die verwüstung des Goethe- schen textes in den späteren Cottaschen drucken. aber auch für die zu- verlässigkeit der überlieferung in dieser ersten periode der textgeschichte sind allgemeine erwägungen nur in so weit triftig, als die tragödie durch die feste buchform wenigstens gegen die zerstörung geschützt war, welche die hypomnematische litteratur nachweislich betroffen hat und betreffen muſste. der traurige zustand, in welchem schriften wie die hippokra- tischen περὶ εὐσχημοσύνης, περὶ φύσιος ἀνϑρώπου, die διαλέξεις σκεπτικαί, die schrift vom staate der Athener, die schrift des Aineas von Stymphalos über belagerungen, vorliegen, muſs im wesentlichen schon in diesen jahrhunderten eingetreten sein. die einen unter diesen sind nur durch einen glücklichen zufall überhaupt in die zeiten ge- rettet worden, welche sich die conservirung der alten litteratur bewuſst zur aufgabe machten. irgend ein litterator des vierten jahrhunderts hatte sich an die Xenophontische schrift vom staate der Lakedaimonier von dem altattischen pamphlete so viel hinzugeschrieben, wie er vorfand oder wie ihm beliebte. die ärztlichen und die kriegswissenschaftlichen schriften aber waren nach bedürfnis ohne rücksicht auf die form von 13) 14) Die formen stellt man sich am besten etwa so vor wie auf dem ältesten erhaltenen papyrus, wahrscheinlich noch aus dem 4. jahrhundert. Blass Philol. 41, 746. 13) sonenwechsel gar nicht. daneben wandte man den doppelpunkt in der zeile an, der aber auch oft fehlt (Porphyr. zu Horaz sat. I 9, 52. Rothstein qu. Lucian. 18) und z. b. im Laur. C des Euripides zur bezeichnung der rhythmischen κᾶλα verwandt wird. v. Wilamowitz I. 9

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 129. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/149>, abgerufen am 24.04.2024.