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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Die tragödie ein buch. erste periode der textgeschichte.
älter als 360 waren? ein anderer beleg ist, dass sich im dialoge der
altattische dativ plur. der ersten declination auf esi, wenn auch ver-
einzelt nur, erhalten hat. und doch kann wenigstens Aischylos in dem
ursprünglich ionischen iambos unmöglich den dativ auf aisi gebraucht
haben; die grammatiker aber kannten kein wirklich altes attisch und
wir haben es auch erst von den steinen gelernt 8).

Das also lässt sich nicht bezweifeln, dass buchausgaben der dramenErste
periode der
text-
geschichte.

von den dichtern besorgt sind, und dass auf sie vornehmlich die über-
lieferung, die den Alexandrinern vorlag, zurückgieng. es würde überaus
wichtig sein, wenn wir von dem aussehen dieser ältesten wirklichen
bücher eine vorstellung gewinnen könnten. aber dazu ist kaum eine aus-
sicht. die geringen orthographischen schwankungen, welche die schrift
noch liess, kann freilich jedermann durch die steinschriften bequem über-
sehen; die mangelnde oder schwankende bezeichnung der hybriden e und
o, die assimilation der einander berührenden consonanten, die willkür im
setzen des paragogischen n und in der bezeichnung von elision und krasis
sind kleinigkeiten. wichtiger wird es, dass die interpunction unsicher bleibt.
Aristoteles kennt nicht nur den querstrich am rande, der den schluss eines
satzes oder besser einer periode bezeichnet 9), sondern auch die stigme,
welche das zusammengehörige im satze abgrenzt, aber er setzt sie nicht in
dem texte voraus 10). es darf somit wol als wahrscheinlich gelten, dass die
bücher wesentlich wie die gleichzeitigen steine und die späteren bücher
geschrieben waren. in ihnen ist dem leser fast nichts gegeben als die
'elemente', die buchstaben. wörter und sätze muss er sich selbst bilden.
die alte gute interpunction des 6. jahrhunderts ist wesentlich durch die
entfaltung der litteratur und des buchhandels verdrängt worden. als das
schreiben auf stein wie auf papier ein gewerbe ward, besorgten es leute,

8) Bei Aischylos ist also sicherlich der dativ auf esi asi herzustellen, im
dialog und in anapaesten. so bin ich im Agamemnon verfahren. es scheint aber
nicht auszureichen, dass man etwas tut, man soll dazu sagen, dass man es tut. bei
den beiden andern tragikern ist kein urteil möglich, weil die sprache zu ihren leb-
zeiten sich änderte. alle späteren setzen längere dative nur als archaismen. für
die alexandrinischen epiker ergibt die prüfung der vortrefflichen überlieferung das
was ich schweigend in meiner ausgabe des Kallimachos durchgeführt habe. die
untersuchung über die ionismen des dialogs verspricht unter dem richtigen gesichts-
punkte noch manchen ertrag: nur muss man dazu von den steinen attisch gelernt
haben. wer pulesi für einen ionismus hält, hat allerdings nicht das recht mitzu-
sprechen.
9) Rhet. III 3. er sagt paragraphe; später paragraphos.
10) Rhet. III. 5. das stizein ist ersichtlich aufgabe des lesers, oder höchstens
des erklärers; der text selbst ist ursprünglich nicht interpungirt gedacht.

Die tragödie ein buch. erste periode der textgeschichte.
älter als 360 waren? ein anderer beleg ist, daſs sich im dialoge der
altattische dativ plur. der ersten declination auf ησι, wenn auch ver-
einzelt nur, erhalten hat. und doch kann wenigstens Aischylos in dem
ursprünglich ionischen iambos unmöglich den dativ auf αισι gebraucht
haben; die grammatiker aber kannten kein wirklich altes attisch und
wir haben es auch erst von den steinen gelernt 8).

Das also läſst sich nicht bezweifeln, daſs buchausgaben der dramenErste
periode der
text-
geschichte.

von den dichtern besorgt sind, und daſs auf sie vornehmlich die über-
lieferung, die den Alexandrinern vorlag, zurückgieng. es würde überaus
wichtig sein, wenn wir von dem aussehen dieser ältesten wirklichen
bücher eine vorstellung gewinnen könnten. aber dazu ist kaum eine aus-
sicht. die geringen orthographischen schwankungen, welche die schrift
noch lieſs, kann freilich jedermann durch die steinschriften bequem über-
sehen; die mangelnde oder schwankende bezeichnung der hybriden e und
o, die assimilation der einander berührenden consonanten, die willkür im
setzen des paragogischen n und in der bezeichnung von elision und krasis
sind kleinigkeiten. wichtiger wird es, daſs die interpunction unsicher bleibt.
Aristoteles kennt nicht nur den querstrich am rande, der den schluſs eines
satzes oder besser einer periode bezeichnet 9), sondern auch die στιγμή,
welche das zusammengehörige im satze abgrenzt, aber er setzt sie nicht in
dem texte voraus 10). es darf somit wol als wahrscheinlich gelten, daſs die
bücher wesentlich wie die gleichzeitigen steine und die späteren bücher
geschrieben waren. in ihnen ist dem leser fast nichts gegeben als die
‘elemente’, die buchstaben. wörter und sätze muſs er sich selbst bilden.
die alte gute interpunction des 6. jahrhunderts ist wesentlich durch die
entfaltung der litteratur und des buchhandels verdrängt worden. als das
schreiben auf stein wie auf papier ein gewerbe ward, besorgten es leute,

8) Bei Aischylos ist also sicherlich der dativ auf ησι ασι herzustellen, im
dialog und in anapaesten. so bin ich im Agamemnon verfahren. es scheint aber
nicht auszureichen, daſs man etwas tut, man soll dazu sagen, daſs man es tut. bei
den beiden andern tragikern ist kein urteil möglich, weil die sprache zu ihren leb-
zeiten sich änderte. alle späteren setzen längere dative nur als archaismen. für
die alexandrinischen epiker ergibt die prüfung der vortrefflichen überlieferung das
was ich schweigend in meiner ausgabe des Kallimachos durchgeführt habe. die
untersuchung über die ionismen des dialogs verspricht unter dem richtigen gesichts-
punkte noch manchen ertrag: nur muſs man dazu von den steinen attisch gelernt
haben. wer πύλησι für einen ionismus hält, hat allerdings nicht das recht mitzu-
sprechen.
9) Rhet. III 3. er sagt παραγραφή; später παράγραφος.
10) Rhet. III. 5. das στίζειν ist ersichtlich aufgabe des lesers, oder höchstens
des erklärers; der text selbst ist ursprünglich nicht interpungirt gedacht.
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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 127. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/147>, abgerufen am 25.04.2024.