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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Die tragödie ein buch.
einmal einzustudiren hat, kann so etwas wenig helfen wie 'heftiges
stöhnen' 'er lacht' 'gesang von innen', 'sie nicken', 'er gibt ihm eine
ohrfeige'. und unmöglich würde sich eine regievorschrift in der nur
ausnahmsweise wiederholten komödie häufiger finden können als in der
tragödie. aber für den leser hat es allerdings seine annehmlichkeit, und
wir sind deshalb in unseren dramen daran gewöhnt. wer es gesetzt hat,
hat es aus dieser rücksicht gesetzt: und das ist in der komödie unmöglich
ein anderer gewesen als der welcher das buch machte. nirgend aber liegt
ein hinderungsgrund vor, in diesem den dichter zu sehen.

Aber auch der text selbst legt trotz aller entstellung beredtes zeugnis
dafür ab, dass er auf eine niederschrift aus der zeit des dichters, d. h.
auf die handschrift oder das dictat des dichters am letzten ende zurück-
geht. in gewissem sinne ist das freilich auch von Pindar, Epicharm und
schon von den compilatoren der uns erhaltenen epen wahr. allein
zwischen dem original, auf welches unsere überlieferung in jenen dichtern
führt, und der wirklichen urschrift liegen viele oder wenige mittel-
glieder, die den überkommenen text in stark umgeformter gestalt weiter
gaben. es ist kein willküract aus bestimmter absicht vorgenommen,
sondern es hat sich der text allmählich modernisirt, unter dem drucke
bestimmter geschichtlich zu erfassender momente. und gerade wer diese
zu beurteilen vermag, sich also über die glaubwürdigkeit der überlieferung
keinen illusionen hingibt, wird sich am meisten vor der schlimmeren
illusion hüten, selbst das original herstellen zu können, so oft er auch
im einzelnen etwas grosses oder kleines berichtigen kann. aber für die
tragiker, und die tragiker zuerst, ist das original, auf welches unsere über-
lieferung zurückführt, auch wirklich das original. seitdem das gespenst
einer umschrift aus dem attischen in das ionische alphabet völlig ver-

wären bühnenanweisung für das orchester. er wird aber schlagend damit widerlegt,
dass dann armateion nicht verdoppelt sein könnte. die schreiber, die das nicht ver-
standen, haben die glossen eingeschwärzt. o Ilion erklärt se, to Ilion apoleto
steht zu s olomenon. ein auszug des scholions lautet tines touto parepigraphen
einai os eis ta komika dramata, in der form byzantinisch, wie eis für en zeigt,
dem inhalt nach gut, da auch so die erklärung jenes Apollodor unwahrscheinlich
gemacht wird. als unmöglich erschien eine tragische parepigraphe offenbar auch
damals nicht. für die komischen hat Holzinger (Parep. bei Aristoph. Wien 1883) das
material nützlich vermehrt und namentlich gezeigt, dass einzelne wirklich auf die
zeit des dichters zurückweisen. seine eigne erklärungsart ist freilich fast lächerlich,
und abgesehen von anderen misgriffen hat er die byzantinische verkehrtheit, die er
bei Tzetzes anerkennt, bei womöglich noch jüngeren scholien zu Arist. und Eurip.
in alte echte gelehrsamkeit umgedeutet.

Die tragödie ein buch.
einmal einzustudiren hat, kann so etwas wenig helfen wie ‘heftiges
stöhnen’ ‘er lacht’ ‘gesang von innen’, ‘sie nicken’, ‘er gibt ihm eine
ohrfeige’. und unmöglich würde sich eine regievorschrift in der nur
ausnahmsweise wiederholten komödie häufiger finden können als in der
tragödie. aber für den leser hat es allerdings seine annehmlichkeit, und
wir sind deshalb in unseren dramen daran gewöhnt. wer es gesetzt hat,
hat es aus dieser rücksicht gesetzt: und das ist in der komödie unmöglich
ein anderer gewesen als der welcher das buch machte. nirgend aber liegt
ein hinderungsgrund vor, in diesem den dichter zu sehen.

Aber auch der text selbst legt trotz aller entstellung beredtes zeugnis
dafür ab, daſs er auf eine niederschrift aus der zeit des dichters, d. h.
auf die handschrift oder das dictat des dichters am letzten ende zurück-
geht. in gewissem sinne ist das freilich auch von Pindar, Epicharm und
schon von den compilatoren der uns erhaltenen epen wahr. allein
zwischen dem original, auf welches unsere überlieferung in jenen dichtern
führt, und der wirklichen urschrift liegen viele oder wenige mittel-
glieder, die den überkommenen text in stark umgeformter gestalt weiter
gaben. es ist kein willküract aus bestimmter absicht vorgenommen,
sondern es hat sich der text allmählich modernisirt, unter dem drucke
bestimmter geschichtlich zu erfassender momente. und gerade wer diese
zu beurteilen vermag, sich also über die glaubwürdigkeit der überlieferung
keinen illusionen hingibt, wird sich am meisten vor der schlimmeren
illusion hüten, selbst das original herstellen zu können, so oft er auch
im einzelnen etwas groſses oder kleines berichtigen kann. aber für die
tragiker, und die tragiker zuerst, ist das original, auf welches unsere über-
lieferung zurückführt, auch wirklich das original. seitdem das gespenst
einer umschrift aus dem attischen in das ionische alphabet völlig ver-

wären bühnenanweisung für das orchester. er wird aber schlagend damit widerlegt,
daſs dann ἁρμάτειον nicht verdoppelt sein könnte. die schreiber, die das nicht ver-
standen, haben die glossen eingeschwärzt. ὦ Ἴλιον erklärt σε, τὸ Ἴλιον ἀπώλετο
steht zu σ̕ ὀλόμενον. ein auszug des scholions lautet τινἐς τοῦτο παρεπιγραφὴν
εἶναι ὡς εἰς τἀ κωμικὰ δράματα, in der form byzantinisch, wie εἰς für ἐν zeigt,
dem inhalt nach gut, da auch so die erklärung jenes Apollodor unwahrscheinlich
gemacht wird. als unmöglich erschien eine tragische παρεπιγραφή offenbar auch
damals nicht. für die komischen hat Holzinger (Parep. bei Aristoph. Wien 1883) das
material nützlich vermehrt und namentlich gezeigt, daſs einzelne wirklich auf die
zeit des dichters zurückweisen. seine eigne erklärungsart ist freilich fast lächerlich,
und abgesehen von anderen misgriffen hat er die byzantinische verkehrtheit, die er
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in alte echte gelehrsamkeit umgedeutet.
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[125/0145] Die tragödie ein buch. einmal einzustudiren hat, kann so etwas wenig helfen wie ‘heftiges stöhnen’ ‘er lacht’ ‘gesang von innen’, ‘sie nicken’, ‘er gibt ihm eine ohrfeige’. und unmöglich würde sich eine regievorschrift in der nur ausnahmsweise wiederholten komödie häufiger finden können als in der tragödie. aber für den leser hat es allerdings seine annehmlichkeit, und wir sind deshalb in unseren dramen daran gewöhnt. wer es gesetzt hat, hat es aus dieser rücksicht gesetzt: und das ist in der komödie unmöglich ein anderer gewesen als der welcher das buch machte. nirgend aber liegt ein hinderungsgrund vor, in diesem den dichter zu sehen. Aber auch der text selbst legt trotz aller entstellung beredtes zeugnis dafür ab, daſs er auf eine niederschrift aus der zeit des dichters, d. h. auf die handschrift oder das dictat des dichters am letzten ende zurück- geht. in gewissem sinne ist das freilich auch von Pindar, Epicharm und schon von den compilatoren der uns erhaltenen epen wahr. allein zwischen dem original, auf welches unsere überlieferung in jenen dichtern führt, und der wirklichen urschrift liegen viele oder wenige mittel- glieder, die den überkommenen text in stark umgeformter gestalt weiter gaben. es ist kein willküract aus bestimmter absicht vorgenommen, sondern es hat sich der text allmählich modernisirt, unter dem drucke bestimmter geschichtlich zu erfassender momente. und gerade wer diese zu beurteilen vermag, sich also über die glaubwürdigkeit der überlieferung keinen illusionen hingibt, wird sich am meisten vor der schlimmeren illusion hüten, selbst das original herstellen zu können, so oft er auch im einzelnen etwas groſses oder kleines berichtigen kann. aber für die tragiker, und die tragiker zuerst, ist das original, auf welches unsere über- lieferung zurückführt, auch wirklich das original. seitdem das gespenst einer umschrift aus dem attischen in das ionische alphabet völlig ver- 5) 5) wären bühnenanweisung für das orchester. er wird aber schlagend damit widerlegt, daſs dann ἁρμάτειον nicht verdoppelt sein könnte. die schreiber, die das nicht ver- standen, haben die glossen eingeschwärzt. ὦ Ἴλιον erklärt σε, τὸ Ἴλιον ἀπώλετο steht zu σ̕ ὀλόμενον. ein auszug des scholions lautet τινἐς τοῦτο παρεπιγραφὴν εἶναι ὡς εἰς τἀ κωμικὰ δράματα, in der form byzantinisch, wie εἰς für ἐν zeigt, dem inhalt nach gut, da auch so die erklärung jenes Apollodor unwahrscheinlich gemacht wird. als unmöglich erschien eine tragische παρεπιγραφή offenbar auch damals nicht. für die komischen hat Holzinger (Parep. bei Aristoph. Wien 1883) das material nützlich vermehrt und namentlich gezeigt, daſs einzelne wirklich auf die zeit des dichters zurückweisen. seine eigne erklärungsart ist freilich fast lächerlich, und abgesehen von anderen misgriffen hat er die byzantinische verkehrtheit, die er bei Tzetzes anerkennt, bei womöglich noch jüngeren scholien zu Arist. und Eurip. in alte echte gelehrsamkeit umgedeutet.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 125. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/145>, abgerufen am 28.03.2024.