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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Moderne vorurteile.
sage sich auf jenen engen kreis beschränkte, ist oben ausgeführt; der
grund hat für die tragödie keine bedeutung mehr, aber sie stand vor der ge-
gebenen tatsache. sie vermochte wol hie und da jenen kreis zu erweitern,
und das hat sie redlich getan, allein sie hätte sich selbst aufgeben müssen,
wenn sie mit der heldensage gebrochen hätte. noch in seinem letzten
lebensjahre hat Euripides dafür den schlagendsten beleg geliefert. er
wollte Archelaos von Makedonien verherrlichen: aber er tat dies, indem
er ihm einen heroischen ahn gab, der sich wenigstens an die Herakliden-
geschichte angliedern konnte.

So führt eine jede betrachtung zuletzt auf das verhältnis der tragödie
zur sage zurück. darin liegt die wurzel ihres wesens, daher stammen
ihre besondern vorzüge und schwächen, darin liegt der unterschied der
attischen tragödie von jeder andern dramatischen poesie, die seitdem
gekommen ist, wahrscheinlich auch, die kommen wird. es ist eine tor-
heit den vorzug der classicität für die dramen Athens zu fordern, eine
torheit aus ihnen den begriff des dramatischen abzuleiten, eine torheit be-
streiten zu wollen, dass die letzten drei jahrhunderte gedichte erzeugt
haben, welche den attischen gedichten gleichwertig sind. allein die attische
tragödie im ganzen ist allerdings mehr als die dramatische poesie irgend
einer anderen zeit, denn sie ist nicht nur die letzte erhabene poesie,
die die Hellenen hervorbringen, und es dauert anderthalb jahrtausende,
bis in Dante etwas vergleichbares auf erden entsteht: es redet durch sie
das fühlen und denken eines ganzen volkes, und die zeit, wo sie blüht,
ist ihres volkes blüte. die ganze geschichtliche entwickelung der Hellenen
strebt auf diese zeit zu, die ganze entwickelung der hellenischen poesie
strebt auf die tragödie zu. somit ist sie nicht nur ein geschichtliches
object von ganz einziger bedeutung, sondern es wird auch jede theore-
tische untersuchung nicht bloss der dramatischen sondern überhaupt aller
poesie jämmerliches stückwerk sein, wenn sie nicht die attische tragödie
verstanden hat. das kann sie nicht aus sich, würde sie selbst beim besten
willen nicht können. die philologie aber verwirkt das recht, kenntnis-
lose hoffart und flache geistreichigkeit zurückzuweisen, wenn sie nicht
ihre pflicht erfüllt und das rechte, das geschichtliche verständnis der
philosophischen betrachtung übermittelt, auf dass diese dann in voller
freiheit damit schalte. weil er (wie zu unterschiedlichen anderen schätzen)
zur attischen tragödie allein die schlüssel führt, werden poesie und philo-
sophie in alle ewigkeit des philologen nicht entraten können.


Moderne vorurteile.
sage sich auf jenen engen kreis beschränkte, ist oben ausgeführt; der
grund hat für die tragödie keine bedeutung mehr, aber sie stand vor der ge-
gebenen tatsache. sie vermochte wol hie und da jenen kreis zu erweitern,
und das hat sie redlich getan, allein sie hätte sich selbst aufgeben müssen,
wenn sie mit der heldensage gebrochen hätte. noch in seinem letzten
lebensjahre hat Euripides dafür den schlagendsten beleg geliefert. er
wollte Archelaos von Makedonien verherrlichen: aber er tat dies, indem
er ihm einen heroischen ahn gab, der sich wenigstens an die Herakliden-
geschichte angliedern konnte.

So führt eine jede betrachtung zuletzt auf das verhältnis der tragödie
zur sage zurück. darin liegt die wurzel ihres wesens, daher stammen
ihre besondern vorzüge und schwächen, darin liegt der unterschied der
attischen tragödie von jeder andern dramatischen poesie, die seitdem
gekommen ist, wahrscheinlich auch, die kommen wird. es ist eine tor-
heit den vorzug der classicität für die dramen Athens zu fordern, eine
torheit aus ihnen den begriff des dramatischen abzuleiten, eine torheit be-
streiten zu wollen, daſs die letzten drei jahrhunderte gedichte erzeugt
haben, welche den attischen gedichten gleichwertig sind. allein die attische
tragödie im ganzen ist allerdings mehr als die dramatische poesie irgend
einer anderen zeit, denn sie ist nicht nur die letzte erhabene poesie,
die die Hellenen hervorbringen, und es dauert anderthalb jahrtausende,
bis in Dante etwas vergleichbares auf erden entsteht: es redet durch sie
das fühlen und denken eines ganzen volkes, und die zeit, wo sie blüht,
ist ihres volkes blüte. die ganze geschichtliche entwickelung der Hellenen
strebt auf diese zeit zu, die ganze entwickelung der hellenischen poesie
strebt auf die tragödie zu. somit ist sie nicht nur ein geschichtliches
object von ganz einziger bedeutung, sondern es wird auch jede theore-
tische untersuchung nicht bloſs der dramatischen sondern überhaupt aller
poesie jämmerliches stückwerk sein, wenn sie nicht die attische tragödie
verstanden hat. das kann sie nicht aus sich, würde sie selbst beim besten
willen nicht können. die philologie aber verwirkt das recht, kenntnis-
lose hoffart und flache geistreichigkeit zurückzuweisen, wenn sie nicht
ihre pflicht erfüllt und das rechte, das geschichtliche verständnis der
philosophischen betrachtung übermittelt, auf daſs diese dann in voller
freiheit damit schalte. weil er (wie zu unterschiedlichen anderen schätzen)
zur attischen tragödie allein die schlüssel führt, werden poesie und philo-
sophie in alle ewigkeit des philologen nicht entraten können.


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[119/0139] Moderne vorurteile. sage sich auf jenen engen kreis beschränkte, ist oben ausgeführt; der grund hat für die tragödie keine bedeutung mehr, aber sie stand vor der ge- gebenen tatsache. sie vermochte wol hie und da jenen kreis zu erweitern, und das hat sie redlich getan, allein sie hätte sich selbst aufgeben müssen, wenn sie mit der heldensage gebrochen hätte. noch in seinem letzten lebensjahre hat Euripides dafür den schlagendsten beleg geliefert. er wollte Archelaos von Makedonien verherrlichen: aber er tat dies, indem er ihm einen heroischen ahn gab, der sich wenigstens an die Herakliden- geschichte angliedern konnte. So führt eine jede betrachtung zuletzt auf das verhältnis der tragödie zur sage zurück. darin liegt die wurzel ihres wesens, daher stammen ihre besondern vorzüge und schwächen, darin liegt der unterschied der attischen tragödie von jeder andern dramatischen poesie, die seitdem gekommen ist, wahrscheinlich auch, die kommen wird. es ist eine tor- heit den vorzug der classicität für die dramen Athens zu fordern, eine torheit aus ihnen den begriff des dramatischen abzuleiten, eine torheit be- streiten zu wollen, daſs die letzten drei jahrhunderte gedichte erzeugt haben, welche den attischen gedichten gleichwertig sind. allein die attische tragödie im ganzen ist allerdings mehr als die dramatische poesie irgend einer anderen zeit, denn sie ist nicht nur die letzte erhabene poesie, die die Hellenen hervorbringen, und es dauert anderthalb jahrtausende, bis in Dante etwas vergleichbares auf erden entsteht: es redet durch sie das fühlen und denken eines ganzen volkes, und die zeit, wo sie blüht, ist ihres volkes blüte. die ganze geschichtliche entwickelung der Hellenen strebt auf diese zeit zu, die ganze entwickelung der hellenischen poesie strebt auf die tragödie zu. somit ist sie nicht nur ein geschichtliches object von ganz einziger bedeutung, sondern es wird auch jede theore- tische untersuchung nicht bloſs der dramatischen sondern überhaupt aller poesie jämmerliches stückwerk sein, wenn sie nicht die attische tragödie verstanden hat. das kann sie nicht aus sich, würde sie selbst beim besten willen nicht können. die philologie aber verwirkt das recht, kenntnis- lose hoffart und flache geistreichigkeit zurückzuweisen, wenn sie nicht ihre pflicht erfüllt und das rechte, das geschichtliche verständnis der philosophischen betrachtung übermittelt, auf daſs diese dann in voller freiheit damit schalte. weil er (wie zu unterschiedlichen anderen schätzen) zur attischen tragödie allein die schlüssel führt, werden poesie und philo- sophie in alle ewigkeit des philologen nicht entraten können.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 119. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/139>, abgerufen am 23.04.2024.