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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Moderne vorurteile.
ums die hehre weihe, die das ende des Oedipus verklärt, teurer ist als das
herzzerreissende bild des geblendeten, der vergeblich um den tod bittet.
allein der dichter der mit gleicher glaubenswahrheit die grellsten disharmo-
nieen ertönen lässt, die der menschen wollen und sollen und können,
der menschen streben und gelingen durchziehen, hat das gleiche recht, und
auch er erfüllt seinen erhabenen dichterberuf. vollends die s. g. poetische
gerechtigkeit ist ja überhaupt nur für den pöbel da, der den schluss des
Lear nicht verträgt, Hamlet auf den thron führt, und die Wahlverwandt-
schaften unmoralisch, Kain gotteslästerlich findet. dieser pöbel existirt
für die attischen tragiker so wenig wie für Shakespeare und Byron. was
Euripides hinter mehrere dramen als schlusswort gesetzt hat, könnte
hinter jedem attischen, hinter jedem drama von Shakespeare stehen:

pollai morphai ton daimonion,
polla d aelptos krainousi theoi.
kai ta dokethent ouk etelesthe,
ton d adoketon poron eure theos;
toiond apebe tode pragma.

man hat das trivial genannt. sei dem so. sei es etwas höheres, wenn das
drama lehrt, dass das schicksal mit dem menschen spielt wie die katze mit
der maus, oder dass der gott dem menschen neidisch sein glück nicht gönnt,
oder dass er wenigstens in jedem funften acte die zeche macht und jeden so
viel zahlen lässt wie er auf dem kerbholz hat -- das attische drama gehen
alle diese schönen sachen darum doch nichts an. der dichter beabsichtigt
auch nicht zu zeigen, wie sich zwei widerstreitende gewalten zerreiben wie
zwei mühlsteine, noch will er sein publicum zu einer woltätigen entladung
vom furcht und mitleid sollicitiren: er beansprucht nur, eine merkwürdige
geschichte dargestellt zu haben. Theophrastos war nicht geistreich, die
rechte famulusnatur war er neben Aristoteles, aber wenn er es ist (wie
er es wol sein wird), der die tragödie eroikes tukhes peristasis genannt
hat, im gegensatze zu der idiotikon pragmaton akindunos periokh[ - 1 Zeichen fehlt],
der komödie (Diomedes p. 488 K.), so ist das trotz einiger trivialität gar
nicht so übel, und namentlich würde es die modernen von den irrgängen
tieff- und scharfsinniger construction auf das geschichtliche object haben
zurückleiten können.

Indessen auch alle diese irrtümer wollen wir nicht bloss abweisen, son-
dern auch erklären. auch sie kommen daher, dass man der sage vergass,
welche in die gedichte zumal der greise Euripides und Sophokles aller-
dings befremdliche disharmonien hineingetragen hat. weil die sage die
tatsachen gibt (und so sieht sie ja selbst Aristoteles an), hat der dichter

Moderne vorurteile.
ums die hehre weihe, die das ende des Oedipus verklärt, teurer ist als das
herzzerreiſsende bild des geblendeten, der vergeblich um den tod bittet.
allein der dichter der mit gleicher glaubenswahrheit die grellsten disharmo-
nieen ertönen läſst, die der menschen wollen und sollen und können,
der menschen streben und gelingen durchziehen, hat das gleiche recht, und
auch er erfüllt seinen erhabenen dichterberuf. vollends die s. g. poetische
gerechtigkeit ist ja überhaupt nur für den pöbel da, der den schluſs des
Lear nicht verträgt, Hamlet auf den thron führt, und die Wahlverwandt-
schaften unmoralisch, Kain gotteslästerlich findet. dieser pöbel existirt
für die attischen tragiker so wenig wie für Shakespeare und Byron. was
Euripides hinter mehrere dramen als schluſswort gesetzt hat, könnte
hinter jedem attischen, hinter jedem drama von Shakespeare stehen:

πολλαὶ μορφαὶ τῶν δαιμονίων,
πολλὰ δ̕ ἀέλπτως κραίνουσι ϑεοί.
καὶ τὰ δοκηϑέντ̕ οὐκ ἐτελέσϑη,
τῶν δ̕ ἀδοκήτων πόρον ηὗρε ϑεός·
τοιόνδ̕ ἀπέβη τόδε πρᾶγμα.

man hat das trivial genannt. sei dem so. sei es etwas höheres, wenn das
drama lehrt, daſs das schicksal mit dem menschen spielt wie die katze mit
der maus, oder daſs der gott dem menschen neidisch sein glück nicht gönnt,
oder daſs er wenigstens in jedem funften acte die zeche macht und jeden so
viel zahlen läſst wie er auf dem kerbholz hat — das attische drama gehen
alle diese schönen sachen darum doch nichts an. der dichter beabsichtigt
auch nicht zu zeigen, wie sich zwei widerstreitende gewalten zerreiben wie
zwei mühlsteine, noch will er sein publicum zu einer woltätigen entladung
vom furcht und mitleid sollicitiren: er beansprucht nur, eine merkwürdige
geschichte dargestellt zu haben. Theophrastos war nicht geistreich, die
rechte famulusnatur war er neben Aristoteles, aber wenn er es ist (wie
er es wol sein wird), der die tragödie ἡρωικῆς τύχης περίστασις genannt
hat, im gegensatze zu der ἰδιωτικῶν πραγμάτων ἀκίνδυνος περιοχ[ – 1 Zeichen fehlt],
der komödie (Diomedes p. 488 K.), so ist das trotz einiger trivialität gar
nicht so übel, und namentlich würde es die modernen von den irrgängen
tieff- und scharfsinniger construction auf das geschichtliche object haben
zurückleiten können.

Indessen auch alle diese irrtümer wollen wir nicht bloſs abweisen, son-
dern auch erklären. auch sie kommen daher, daſs man der sage vergaſs,
welche in die gedichte zumal der greise Euripides und Sophokles aller-
dings befremdliche disharmonien hineingetragen hat. weil die sage die
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[117/0137] Moderne vorurteile. ums die hehre weihe, die das ende des Oedipus verklärt, teurer ist als das herzzerreiſsende bild des geblendeten, der vergeblich um den tod bittet. allein der dichter der mit gleicher glaubenswahrheit die grellsten disharmo- nieen ertönen läſst, die der menschen wollen und sollen und können, der menschen streben und gelingen durchziehen, hat das gleiche recht, und auch er erfüllt seinen erhabenen dichterberuf. vollends die s. g. poetische gerechtigkeit ist ja überhaupt nur für den pöbel da, der den schluſs des Lear nicht verträgt, Hamlet auf den thron führt, und die Wahlverwandt- schaften unmoralisch, Kain gotteslästerlich findet. dieser pöbel existirt für die attischen tragiker so wenig wie für Shakespeare und Byron. was Euripides hinter mehrere dramen als schluſswort gesetzt hat, könnte hinter jedem attischen, hinter jedem drama von Shakespeare stehen: πολλαὶ μορφαὶ τῶν δαιμονίων, πολλὰ δ̕ ἀέλπτως κραίνουσι ϑεοί. καὶ τὰ δοκηϑέντ̕ οὐκ ἐτελέσϑη, τῶν δ̕ ἀδοκήτων πόρον ηὗρε ϑεός· τοιόνδ̕ ἀπέβη τόδε πρᾶγμα. man hat das trivial genannt. sei dem so. sei es etwas höheres, wenn das drama lehrt, daſs das schicksal mit dem menschen spielt wie die katze mit der maus, oder daſs der gott dem menschen neidisch sein glück nicht gönnt, oder daſs er wenigstens in jedem funften acte die zeche macht und jeden so viel zahlen läſst wie er auf dem kerbholz hat — das attische drama gehen alle diese schönen sachen darum doch nichts an. der dichter beabsichtigt auch nicht zu zeigen, wie sich zwei widerstreitende gewalten zerreiben wie zwei mühlsteine, noch will er sein publicum zu einer woltätigen entladung vom furcht und mitleid sollicitiren: er beansprucht nur, eine merkwürdige geschichte dargestellt zu haben. Theophrastos war nicht geistreich, die rechte famulusnatur war er neben Aristoteles, aber wenn er es ist (wie er es wol sein wird), der die tragödie ἡρωικῆς τύχης περίστασις genannt hat, im gegensatze zu der ἰδιωτικῶν πραγμάτων ἀκίνδυνος περιοχ_, der komödie (Diomedes p. 488 K.), so ist das trotz einiger trivialität gar nicht so übel, und namentlich würde es die modernen von den irrgängen tieff- und scharfsinniger construction auf das geschichtliche object haben zurückleiten können. Indessen auch alle diese irrtümer wollen wir nicht bloſs abweisen, son- dern auch erklären. auch sie kommen daher, daſs man der sage vergaſs, welche in die gedichte zumal der greise Euripides und Sophokles aller- dings befremdliche disharmonien hineingetragen hat. weil die sage die tatsachen gibt (und so sieht sie ja selbst Aristoteles an), hat der dichter

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 117. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/137>, abgerufen am 18.04.2024.