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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Was ist eine attische tragödie?
der kleinstadt und der dafür geeigneten gesellschaftsordnung verharrt,
welche von der speculation und von der geschichte in wahrheit längst
überwunden war.

Moderne
vorurteile.

Endlos und nutzlos würde es sein die modernen definitionen des
dramas mit der des attischen zu vergleichen, welche die geschichte gibt;
das oion an genoito ist philosophischer, aber es ist mit dem oion en
incommensurabel. nur einige consequenzen zu ziehen wird praktisch
sein, weil gewisse vorurteile sich fest eingewurzelt haben, so dass es nicht
genügt gezeigt zu haben, dass sie unkraut sind; sie müssen ausgerissen
werden.

'Tragisch' braucht eine tragödie weder zu schliessen noch zu sein.
nur die ernsthafte behandlung ist nötig. die peripatetiker, welche an
dem ausgange des euripideischen Orestes und gar der sophokleischen
Elektra anstoss nehmen 66), sind durch Aristoteles auf einen holzweg ge-
lockt. die Alkestis enthält gerade sehr rührende partien, sie soll und
kann als tragödie gelten: aber sie schlägt in den zankscenen einen scherz-
haften humoristischen ton an und führt Herakles als komische figur ein:
dadurch wird sie dem satyrspiel angeähnelt, das ja aber die tragödie aus
sich entwickelt hat, so dass die grenze (wenn man von dem satyrchor
absieht) keine feste ist.

Es ist die meinung verbreitet, dass die attische tragödie erst allmäh-
lich dazu fortgeschritten wäre, individuelle menschen zu schildern, nach-
dem sie typen gebildet hätte, also z. b. Sophokles 'den könig' 'die schwester'
'den greis'. das würde sehr seltsam sein, denn erst die abstraction findet
solche typen, während die beobachtung nur individualitäten liefert. und
dass die bildende kunst lange zeit nur 'mann' und 'weib' gebildet hat,
ehe sie Perikles und Lysimache bilden kann, zeigt nur den gegensatz
der künste, der in ihrem wesen liegt. es würde aber auch schwer begreif-
lich sein, dass Sophokles nicht können sollte, was Homer schon zur voll-
kommenheit geführt hat: Achilleus und Nausikaa sind wahrlich keine
blossen typen. der gang der entwickelung ist umgekehrt. der jüngling
schreibt Götz und Werther, die jedermann verständlich sind; Epimenides

66) Orestes hypoth. und aus dieser schol. 1691, Alkest. hypoth. diese führt in
einer handschrift (Laur. C) den autornamen Dikaiarkhou: das ist ganz unverständlich,
wenn man es nicht auf diese aesthetische kritik bezieht. ebendaher der wertvolle
litterar-historische traktat, der meist peri komodias genannt wird, obwol er weiter
greift und vermutlich auf die chrestomathie des Proklos zurückgeht; jetzt zu lesen
in dem neudruck von Studemund Philol. 46, 13. die auszüge des Tzetzes hieraus
haben nun kein anrecht auf beachtung mehr.

Was ist eine attische tragödie?
der kleinstadt und der dafür geeigneten gesellschaftsordnung verharrt,
welche von der speculation und von der geschichte in wahrheit längst
überwunden war.

Moderne
vorurteile.

Endlos und nutzlos würde es sein die modernen definitionen des
dramas mit der des attischen zu vergleichen, welche die geschichte gibt;
das οἷον ἂν γένοιτο ist philosophischer, aber es ist mit dem οἷον ἦν
incommensurabel. nur einige consequenzen zu ziehen wird praktisch
sein, weil gewisse vorurteile sich fest eingewurzelt haben, so daſs es nicht
genügt gezeigt zu haben, daſs sie unkraut sind; sie müssen ausgerissen
werden.

‘Tragisch’ braucht eine tragödie weder zu schlieſsen noch zu sein.
nur die ernsthafte behandlung ist nötig. die peripatetiker, welche an
dem ausgange des euripideischen Orestes und gar der sophokleischen
Elektra anstoſs nehmen 66), sind durch Aristoteles auf einen holzweg ge-
lockt. die Alkestis enthält gerade sehr rührende partien, sie soll und
kann als tragödie gelten: aber sie schlägt in den zankscenen einen scherz-
haften humoristischen ton an und führt Herakles als komische figur ein:
dadurch wird sie dem satyrspiel angeähnelt, das ja aber die tragödie aus
sich entwickelt hat, so daſs die grenze (wenn man von dem satyrchor
absieht) keine feste ist.

Es ist die meinung verbreitet, daſs die attische tragödie erst allmäh-
lich dazu fortgeschritten wäre, individuelle menschen zu schildern, nach-
dem sie typen gebildet hätte, also z. b. Sophokles ‘den könig’ ‘die schwester’
‘den greis’. das würde sehr seltsam sein, denn erst die abstraction findet
solche typen, während die beobachtung nur individualitäten liefert. und
daſs die bildende kunst lange zeit nur ‘mann’ und ‘weib’ gebildet hat,
ehe sie Perikles und Lysimache bilden kann, zeigt nur den gegensatz
der künste, der in ihrem wesen liegt. es würde aber auch schwer begreif-
lich sein, daſs Sophokles nicht können sollte, was Homer schon zur voll-
kommenheit geführt hat: Achilleus und Nausikaa sind wahrlich keine
bloſsen typen. der gang der entwickelung ist umgekehrt. der jüngling
schreibt Götz und Werther, die jedermann verständlich sind; Epimenides

66) Orestes hypoth. und aus dieser schol. 1691, Alkest. hypoth. diese führt in
einer handschrift (Laur. C) den autornamen Δικαιάρχου: das ist ganz unverständlich,
wenn man es nicht auf diese aesthetische kritik bezieht. ebendaher der wertvolle
litterar-historische traktat, der meist περὶ κωμῳδίας genannt wird, obwol er weiter
greift und vermutlich auf die chrestomathie des Proklos zurückgeht; jetzt zu lesen
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[112/0132] Was ist eine attische tragödie? der kleinstadt und der dafür geeigneten gesellschaftsordnung verharrt, welche von der speculation und von der geschichte in wahrheit längst überwunden war. Endlos und nutzlos würde es sein die modernen definitionen des dramas mit der des attischen zu vergleichen, welche die geschichte gibt; das οἷον ἂν γένοιτο ist philosophischer, aber es ist mit dem οἷον ἦν incommensurabel. nur einige consequenzen zu ziehen wird praktisch sein, weil gewisse vorurteile sich fest eingewurzelt haben, so daſs es nicht genügt gezeigt zu haben, daſs sie unkraut sind; sie müssen ausgerissen werden. ‘Tragisch’ braucht eine tragödie weder zu schlieſsen noch zu sein. nur die ernsthafte behandlung ist nötig. die peripatetiker, welche an dem ausgange des euripideischen Orestes und gar der sophokleischen Elektra anstoſs nehmen 66), sind durch Aristoteles auf einen holzweg ge- lockt. die Alkestis enthält gerade sehr rührende partien, sie soll und kann als tragödie gelten: aber sie schlägt in den zankscenen einen scherz- haften humoristischen ton an und führt Herakles als komische figur ein: dadurch wird sie dem satyrspiel angeähnelt, das ja aber die tragödie aus sich entwickelt hat, so daſs die grenze (wenn man von dem satyrchor absieht) keine feste ist. Es ist die meinung verbreitet, daſs die attische tragödie erst allmäh- lich dazu fortgeschritten wäre, individuelle menschen zu schildern, nach- dem sie typen gebildet hätte, also z. b. Sophokles ‘den könig’ ‘die schwester’ ‘den greis’. das würde sehr seltsam sein, denn erst die abstraction findet solche typen, während die beobachtung nur individualitäten liefert. und daſs die bildende kunst lange zeit nur ‘mann’ und ‘weib’ gebildet hat, ehe sie Perikles und Lysimache bilden kann, zeigt nur den gegensatz der künste, der in ihrem wesen liegt. es würde aber auch schwer begreif- lich sein, daſs Sophokles nicht können sollte, was Homer schon zur voll- kommenheit geführt hat: Achilleus und Nausikaa sind wahrlich keine bloſsen typen. der gang der entwickelung ist umgekehrt. der jüngling schreibt Götz und Werther, die jedermann verständlich sind; Epimenides 66) Orestes hypoth. und aus dieser schol. 1691, Alkest. hypoth. diese führt in einer handschrift (Laur. C) den autornamen Δικαιάρχου: das ist ganz unverständlich, wenn man es nicht auf diese aesthetische kritik bezieht. ebendaher der wertvolle litterar-historische traktat, der meist περὶ κωμῳδίας genannt wird, obwol er weiter greift und vermutlich auf die chrestomathie des Proklos zurückgeht; jetzt zu lesen in dem neudruck von Studemund Philol. 46, 13. die auszüge des Tzetzes hieraus haben nun kein anrecht auf beachtung mehr.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 112. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/132>, abgerufen am 20.04.2024.