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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Die aristotelische definition.
empfindet ist nicht pathologisch sondern moralisch, ist keine katharsis
sondern eine reinigung. aber das gehört nicht hierher; oder doch nur so
weit, als die Athener im gegensatze zu Aristoteles von ihren dichtern, weil
sie dichter waren, et delectare et prodesse verlangt haben. und wenn es
ein ruhm sein sollte, dass Aristoteles die moralische wirkung nicht an-
erkennt, so hat er das erreicht, weil er nicht mehr hellenisch empfand.

Wie wenig er das tat, zeigt sich am stärksten darin, was seine defi-
nition vermissen lässt, obwol es das wichtigste ist: er ignorirt die sage.
das beispiel, das er an der Iphigeneiafabel gibt (17), zeigt, dass er sich
die tätigkeit des dichters wirklich etwa so vorstellt, wie Raffaels handzeich-
nungen es für den maler beweisen. erst wird das allgemein menschliche
motiv in seiner natürlichen naktheit durchgeführt, dann erst findet die
bekleidung mit den sagenhaften namen statt. die tatsache, dass gleichwol
die tragiker keine erfundenen stoffe behandeln, ist Aristoteles unbequem;
mit wolgefallen notirt er eine ausnahme, obwol Agathon weder nach-
haltigen beifall noch nachahmung gefunden hatte. endlich hilft er sich
damit, dass das publicum auf wahrscheinlichkeit halte und diese doch
vorhanden sein müsse, wenn die geschichten wirklich passirt sind. also
die sage hat nur als geschichtliche wirklichkeit bedeutung. nun lehrt
aber Aristoteles selbst, dass die wirklichkeit unpoetisch ist, muss sich
also damit helfen, dass doch unter dem was passirt auch einzelnes ist,
das der anforderung des poetischen (oion an genoito) entspricht, wofür
ihm eine bestätigung ist, dass zu seiner zeit nur noch eine beschränkte
zahl von sagenstoffen wieder und wieder bearbeitet wurden. wer wollte
leugnen, dass Aristoteles auch hier nur sagt was er empfindet und zu
empfinden ein recht hat. denn für ihn war die sage tot, so dass er
sie weder als lebendige macht anerkennen noch, wie Platon, bekämpfen
mochte. wenn ein bedeutender tragiker noch erstanden wäre, so hätte er
jedenfalls die heldensage aufgegeben und in das menschenleben der gegen-
wart hineingegriffen; dabei würde dann freilich die scheidelinie zwischen
tragödie und komödie durchbrochen worden sein und ein ganz neues
'drama' entstanden. aber das hat Aristoteles nicht geahnt: nicht er hat
Shakespeare prophezeit, sondern Platon. er hat der folgezeit die richtige
directive nicht gegeben, sondern ist in den formen einer innerlich über-
wundenen poesie stecken geblieben. und geschichtlich verstanden hat
der die alte grosse attische tragödie wahrhaftig auch nicht, der ihren inhalt
ignorirt. es ist in der poetik wie in der politik, wo er weder der grossen
vergangenheit, dem attischen Reiche, noch der grossen zukunft, dem
reiche Alexanders gerecht zu werden versteht, vielmehr in der misere

Die aristotelische definition.
empfindet ist nicht pathologisch sondern moralisch, ist keine κάϑαρσις
sondern eine reinigung. aber das gehört nicht hierher; oder doch nur so
weit, als die Athener im gegensatze zu Aristoteles von ihren dichtern, weil
sie dichter waren, et delectare et prodesse verlangt haben. und wenn es
ein ruhm sein sollte, daſs Aristoteles die moralische wirkung nicht an-
erkennt, so hat er das erreicht, weil er nicht mehr hellenisch empfand.

Wie wenig er das tat, zeigt sich am stärksten darin, was seine defi-
nition vermissen läſst, obwol es das wichtigste ist: er ignorirt die sage.
das beispiel, das er an der Iphigeneiafabel gibt (17), zeigt, daſs er sich
die tätigkeit des dichters wirklich etwa so vorstellt, wie Raffaels handzeich-
nungen es für den maler beweisen. erst wird das allgemein menschliche
motiv in seiner natürlichen naktheit durchgeführt, dann erst findet die
bekleidung mit den sagenhaften namen statt. die tatsache, daſs gleichwol
die tragiker keine erfundenen stoffe behandeln, ist Aristoteles unbequem;
mit wolgefallen notirt er eine ausnahme, obwol Agathon weder nach-
haltigen beifall noch nachahmung gefunden hatte. endlich hilft er sich
damit, daſs das publicum auf wahrscheinlichkeit halte und diese doch
vorhanden sein müsse, wenn die geschichten wirklich passirt sind. also
die sage hat nur als geschichtliche wirklichkeit bedeutung. nun lehrt
aber Aristoteles selbst, daſs die wirklichkeit unpoetisch ist, muſs sich
also damit helfen, daſs doch unter dem was passirt auch einzelnes ist,
das der anforderung des poetischen (οἷον ἂν γένοιτο) entspricht, wofür
ihm eine bestätigung ist, daſs zu seiner zeit nur noch eine beschränkte
zahl von sagenstoffen wieder und wieder bearbeitet wurden. wer wollte
leugnen, daſs Aristoteles auch hier nur sagt was er empfindet und zu
empfinden ein recht hat. denn für ihn war die sage tot, so daſs er
sie weder als lebendige macht anerkennen noch, wie Platon, bekämpfen
mochte. wenn ein bedeutender tragiker noch erstanden wäre, so hätte er
jedenfalls die heldensage aufgegeben und in das menschenleben der gegen-
wart hineingegriffen; dabei würde dann freilich die scheidelinie zwischen
tragödie und komödie durchbrochen worden sein und ein ganz neues
‘drama’ entstanden. aber das hat Aristoteles nicht geahnt: nicht er hat
Shakespeare prophezeit, sondern Platon. er hat der folgezeit die richtige
directive nicht gegeben, sondern ist in den formen einer innerlich über-
wundenen poesie stecken geblieben. und geschichtlich verstanden hat
der die alte groſse attische tragödie wahrhaftig auch nicht, der ihren inhalt
ignorirt. es ist in der poetik wie in der politik, wo er weder der groſsen
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[111/0131] Die aristotelische definition. empfindet ist nicht pathologisch sondern moralisch, ist keine κάϑαρσις sondern eine reinigung. aber das gehört nicht hierher; oder doch nur so weit, als die Athener im gegensatze zu Aristoteles von ihren dichtern, weil sie dichter waren, et delectare et prodesse verlangt haben. und wenn es ein ruhm sein sollte, daſs Aristoteles die moralische wirkung nicht an- erkennt, so hat er das erreicht, weil er nicht mehr hellenisch empfand. Wie wenig er das tat, zeigt sich am stärksten darin, was seine defi- nition vermissen läſst, obwol es das wichtigste ist: er ignorirt die sage. das beispiel, das er an der Iphigeneiafabel gibt (17), zeigt, daſs er sich die tätigkeit des dichters wirklich etwa so vorstellt, wie Raffaels handzeich- nungen es für den maler beweisen. erst wird das allgemein menschliche motiv in seiner natürlichen naktheit durchgeführt, dann erst findet die bekleidung mit den sagenhaften namen statt. die tatsache, daſs gleichwol die tragiker keine erfundenen stoffe behandeln, ist Aristoteles unbequem; mit wolgefallen notirt er eine ausnahme, obwol Agathon weder nach- haltigen beifall noch nachahmung gefunden hatte. endlich hilft er sich damit, daſs das publicum auf wahrscheinlichkeit halte und diese doch vorhanden sein müsse, wenn die geschichten wirklich passirt sind. also die sage hat nur als geschichtliche wirklichkeit bedeutung. nun lehrt aber Aristoteles selbst, daſs die wirklichkeit unpoetisch ist, muſs sich also damit helfen, daſs doch unter dem was passirt auch einzelnes ist, das der anforderung des poetischen (οἷον ἂν γένοιτο) entspricht, wofür ihm eine bestätigung ist, daſs zu seiner zeit nur noch eine beschränkte zahl von sagenstoffen wieder und wieder bearbeitet wurden. wer wollte leugnen, daſs Aristoteles auch hier nur sagt was er empfindet und zu empfinden ein recht hat. denn für ihn war die sage tot, so daſs er sie weder als lebendige macht anerkennen noch, wie Platon, bekämpfen mochte. wenn ein bedeutender tragiker noch erstanden wäre, so hätte er jedenfalls die heldensage aufgegeben und in das menschenleben der gegen- wart hineingegriffen; dabei würde dann freilich die scheidelinie zwischen tragödie und komödie durchbrochen worden sein und ein ganz neues ‘drama’ entstanden. aber das hat Aristoteles nicht geahnt: nicht er hat Shakespeare prophezeit, sondern Platon. er hat der folgezeit die richtige directive nicht gegeben, sondern ist in den formen einer innerlich über- wundenen poesie stecken geblieben. und geschichtlich verstanden hat der die alte groſse attische tragödie wahrhaftig auch nicht, der ihren inhalt ignorirt. es ist in der poetik wie in der politik, wo er weder der groſsen vergangenheit, dem attischen Reiche, noch der groſsen zukunft, dem reiche Alexanders gerecht zu werden versteht, vielmehr in der misere

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 111. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/131>, abgerufen am 19.04.2024.