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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Die heldensage; ihre geschichte.
gesellschaftsformen gebrochen. die lebendige kraft einer in gesetzmässiger
freiheit zum selbstbewusstsein und zur selbstregierung berufenen bürger-
schaft ist entfesselt. die schönsten aufgaben werden dem volke zur rechten
zeit gestellt, werden gelöst und neue höhere ziele eröffnen sich dem blicke.
in dieser atmosphäre schuf Aischylos die tragödie, ward er ein neuer
Homer. das volk in seiner breiten masse lebte und webte noch in der
sage, und die demokratie verwarf die tyrannische subjectivität der Ionier
und die oligarchische des Pindaros. aber das volk verlangte seine eignen
wahren und innigen empfindungen aus der sage hervortönen zu hören,
und wollte mittun auch an seinem gottesdienste. und das volk war fromm
und ernst; die höchsten und tiefsten gefühle regten sich in seiner seele:
es verlangte nach dem dichter, der den gefühlen gestalt farbe klang ver-
liehe: es verlangte nach dem dichter der ihm lehrer und erzieher werde,
der es zu gott führe.

Also konnte für das Athen, das bei Marathon und Salamis geschlagen
hat, nur eine poesie genügen, welche objectiv und volkstümlich blieb wie
die des epos, in welcher der dichter mit seiner person zurücktrat. und
es musste eine ernste und erhabene poesie sein (spoudaia, wie Aristo-
teles sagt), die ein weltbild gab und gott in der geschichte zeigte, wie
die homerische. damit war zugleich als stoff der einzig vorhandene ge-
geben, die heldensage. aber die poesie musste gleichwol eine neue natio-
nale von dem geiste der grossen gegenwart durchtränkte sein: die home-
rische sage musste aus dem attischen geiste wiedergeboren werden, das
waren die forderungen für den inhalt. was die form angieng, so ist
oben gezeigt, dass die chorische lyrik, aber von einem bürgerchore aus-
geübt, und der ionische sprecher und für beide das costüm, also die
mimesis gegeben war. man kann sagen, Aischylos brauchte nur zuzu-
greifen, der tragödie durch zufügung des zweiten schauspielers zur wirk-
lichen handlung zu verhelfen und sie ek mikron muthon kai lexeos
geloias aposemnunein: dann war alles geschehen. gewiss, wir vermögen
die geschichtlichen kräfte zu wägen, einzusehen, dass und warum sie auf
das eine ziel hinwirken, welches dann durch den glücklichen griff des
einzelnen erreicht wird. und es ist dann die probe gemacht, dass das
geschichtliche exempel aufgegangen ist. nur wird darum die grösse des
genies nicht geringer: seine tat bleibt immer das ei des Columbus, mögen
wir ihm den platz noch so genau nachrechnen können, den ihm die
geschichte vorsorglich bereitet hatte.

Es ist offenbar geworden, dass der anschluss an die heldensage das
ist, wodurch Aischylos die tragödie geschaffen hat. damit ist die tatsache

Die heldensage; ihre geschichte.
gesellschaftsformen gebrochen. die lebendige kraft einer in gesetzmäſsiger
freiheit zum selbstbewuſstsein und zur selbstregierung berufenen bürger-
schaft ist entfesselt. die schönsten aufgaben werden dem volke zur rechten
zeit gestellt, werden gelöst und neue höhere ziele eröffnen sich dem blicke.
in dieser atmosphäre schuf Aischylos die tragödie, ward er ein neuer
Homer. das volk in seiner breiten masse lebte und webte noch in der
sage, und die demokratie verwarf die tyrannische subjectivität der Ionier
und die oligarchische des Pindaros. aber das volk verlangte seine eignen
wahren und innigen empfindungen aus der sage hervortönen zu hören,
und wollte mittun auch an seinem gottesdienste. und das volk war fromm
und ernst; die höchsten und tiefsten gefühle regten sich in seiner seele:
es verlangte nach dem dichter, der den gefühlen gestalt farbe klang ver-
liehe: es verlangte nach dem dichter der ihm lehrer und erzieher werde,
der es zu gott führe.

Also konnte für das Athen, das bei Marathon und Salamis geschlagen
hat, nur eine poesie genügen, welche objectiv und volkstümlich blieb wie
die des epos, in welcher der dichter mit seiner person zurücktrat. und
es muſste eine ernste und erhabene poesie sein (σπουδαία, wie Aristo-
teles sagt), die ein weltbild gab und gott in der geschichte zeigte, wie
die homerische. damit war zugleich als stoff der einzig vorhandene ge-
geben, die heldensage. aber die poesie muſste gleichwol eine neue natio-
nale von dem geiste der groſsen gegenwart durchtränkte sein: die home-
rische sage muſste aus dem attischen geiste wiedergeboren werden, das
waren die forderungen für den inhalt. was die form angieng, so ist
oben gezeigt, daſs die chorische lyrik, aber von einem bürgerchore aus-
geübt, und der ionische sprecher und für beide das costüm, also die
μίμησις gegeben war. man kann sagen, Aischylos brauchte nur zuzu-
greifen, der tragödie durch zufügung des zweiten schauspielers zur wirk-
lichen handlung zu verhelfen und sie ἐκ μικρῶν μύϑων καὶ λέξεως
γελοίας ἀποσεμνύνειν: dann war alles geschehen. gewiſs, wir vermögen
die geschichtlichen kräfte zu wägen, einzusehen, daſs und warum sie auf
das eine ziel hinwirken, welches dann durch den glücklichen griff des
einzelnen erreicht wird. und es ist dann die probe gemacht, daſs das
geschichtliche exempel aufgegangen ist. nur wird darum die gröſse des
genies nicht geringer: seine tat bleibt immer das ei des Columbus, mögen
wir ihm den platz noch so genau nachrechnen können, den ihm die
geschichte vorsorglich bereitet hatte.

Es ist offenbar geworden, daſs der anschluſs an die heldensage das
ist, wodurch Aischylos die tragödie geschaffen hat. damit ist die tatsache

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[105/0125] Die heldensage; ihre geschichte. gesellschaftsformen gebrochen. die lebendige kraft einer in gesetzmäſsiger freiheit zum selbstbewuſstsein und zur selbstregierung berufenen bürger- schaft ist entfesselt. die schönsten aufgaben werden dem volke zur rechten zeit gestellt, werden gelöst und neue höhere ziele eröffnen sich dem blicke. in dieser atmosphäre schuf Aischylos die tragödie, ward er ein neuer Homer. das volk in seiner breiten masse lebte und webte noch in der sage, und die demokratie verwarf die tyrannische subjectivität der Ionier und die oligarchische des Pindaros. aber das volk verlangte seine eignen wahren und innigen empfindungen aus der sage hervortönen zu hören, und wollte mittun auch an seinem gottesdienste. und das volk war fromm und ernst; die höchsten und tiefsten gefühle regten sich in seiner seele: es verlangte nach dem dichter, der den gefühlen gestalt farbe klang ver- liehe: es verlangte nach dem dichter der ihm lehrer und erzieher werde, der es zu gott führe. Also konnte für das Athen, das bei Marathon und Salamis geschlagen hat, nur eine poesie genügen, welche objectiv und volkstümlich blieb wie die des epos, in welcher der dichter mit seiner person zurücktrat. und es muſste eine ernste und erhabene poesie sein (σπουδαία, wie Aristo- teles sagt), die ein weltbild gab und gott in der geschichte zeigte, wie die homerische. damit war zugleich als stoff der einzig vorhandene ge- geben, die heldensage. aber die poesie muſste gleichwol eine neue natio- nale von dem geiste der groſsen gegenwart durchtränkte sein: die home- rische sage muſste aus dem attischen geiste wiedergeboren werden, das waren die forderungen für den inhalt. was die form angieng, so ist oben gezeigt, daſs die chorische lyrik, aber von einem bürgerchore aus- geübt, und der ionische sprecher und für beide das costüm, also die μίμησις gegeben war. man kann sagen, Aischylos brauchte nur zuzu- greifen, der tragödie durch zufügung des zweiten schauspielers zur wirk- lichen handlung zu verhelfen und sie ἐκ μικρῶν μύϑων καὶ λέξεως γελοίας ἀποσεμνύνειν: dann war alles geschehen. gewiſs, wir vermögen die geschichtlichen kräfte zu wägen, einzusehen, daſs und warum sie auf das eine ziel hinwirken, welches dann durch den glücklichen griff des einzelnen erreicht wird. und es ist dann die probe gemacht, daſs das geschichtliche exempel aufgegangen ist. nur wird darum die gröſse des genies nicht geringer: seine tat bleibt immer das ei des Columbus, mögen wir ihm den platz noch so genau nachrechnen können, den ihm die geschichte vorsorglich bereitet hatte. Es ist offenbar geworden, daſs der anschluſs an die heldensage das ist, wodurch Aischylos die tragödie geschaffen hat. damit ist die tatsache

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 105. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/125>, abgerufen am 25.04.2024.