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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Aischylos. die heldensage; ihr wesen.
Agathon und Theodektes waren ja auch keine solchen tragiker mehr.
für die stellung des dichters zu seinem volke zeugt am besten der ernst-
hafte spötter Aristophanes. belehren und bessern soll der dichter: tut
er das nicht, so ist er des todes schuldig (Frö. 1012), und selbst das
entschuldigt ihn nicht, wenn er für eine verderbliche geschichte sich auf
die sage beruft (Frö. 1052). das ist derselbe massstab, den Platon an-
legt, und so zur ausschliessung Homers und der tragödie kommt. ob wir
die aufgabe der dichtkunst ebenso fassen mögen, stehe dahin. die Athener
haben sie so gefasst, und Dante ist eines solchen berufes sich bewusst
gewesen, und Goethe hat zeitlebens mit leidenschaft dagegen protestirt:
wir wissen aber, dass er selbst diese erhabenste aufgabe so vollkommen
erfüllt hat wie Aischylos, Platon, Dante, und dass er noch für jahrhunderte
der lehrer und erzieher nicht nur seines eignen volkes sein wird.

Weil wir selbst noch unter dem banne solcher allmächtigen dichterdie helden-
sage;
ihr wesen.

stehen, ist uns die ungeheure macht des attischen dramas noch ver-
ständlich, und die tatsache liegt ja auch vor augen, dass es für die er-
ziehung und erbauung des volkes ein complement des epos wird, während
die lyrik dazu nur geringes, die elegie nur hübsche aber triviale sprüche
beigesteuert hat. Homer und die tragiker sind Moses und die propheten
für Hellas. aber das wird schwerer begriffen, dass der grund dieser er-
habenen stellung darin zu finden ist, dass Aischylos die sage zum inhalte
seiner dichtungen macht, und dadurch für immer der tragödie ihren stoff
zuweist. ist es uns, die wir so sehr geneigt sind die persönlichkeit zu
überschätzen, schon befremdlich, dass gerade die dichtung so mächtig
wird, in welcher der dichter hinter seinem werke verschwindet, ganz wie
im epos (doch da haben wir ja Shakespeare, der dasselbe lehren kann),
so sträubt sich vollends der moderne gegen eine macht, die freilich einem
papiernen saeculo ganz fremdartig ist, die macht der sage. der ratio-
nalismus kann sich's nun mal nicht anders vorstellen, als dass alles, was
doch gar nicht passirt ist und gar nicht passirt sein kann, sich einer
bloss mal so ausgedacht haben muss, und dann kann doch nur auf
diese person etwas ankommen und nicht auf ihre hirngespinnste. zum
mindesten erscheint ihm als eine des verständigen mannes unwürdige
schwachheit, wie der teufel sagt, abzuhängen von creaturen die wir
machten. die romantik aber, die freilich die tiefe empfindung von dem
besitzt, was der rationalismus am liebsten negirt und immer zerstört,
bleibt in der trauer und der sehnsucht befangen, dass das paradies,
dessen schönheit sie fühlt, ein verlornes, und nur im traum noch für
uns zu betretendes sei. das ist nicht der rechte weg. die poesie und die

Aischylos. die heldensage; ihr wesen.
Agathon und Theodektes waren ja auch keine solchen tragiker mehr.
für die stellung des dichters zu seinem volke zeugt am besten der ernst-
hafte spötter Aristophanes. belehren und bessern soll der dichter: tut
er das nicht, so ist er des todes schuldig (Frö. 1012), und selbst das
entschuldigt ihn nicht, wenn er für eine verderbliche geschichte sich auf
die sage beruft (Frö. 1052). das ist derselbe maſsstab, den Platon an-
legt, und so zur ausschlieſsung Homers und der tragödie kommt. ob wir
die aufgabe der dichtkunst ebenso fassen mögen, stehe dahin. die Athener
haben sie so gefaſst, und Dante ist eines solchen berufes sich bewuſst
gewesen, und Goethe hat zeitlebens mit leidenschaft dagegen protestirt:
wir wissen aber, daſs er selbst diese erhabenste aufgabe so vollkommen
erfüllt hat wie Aischylos, Platon, Dante, und daſs er noch für jahrhunderte
der lehrer und erzieher nicht nur seines eignen volkes sein wird.

Weil wir selbst noch unter dem banne solcher allmächtigen dichterdie helden-
sage;
ihr wesen.

stehen, ist uns die ungeheure macht des attischen dramas noch ver-
ständlich, und die tatsache liegt ja auch vor augen, daſs es für die er-
ziehung und erbauung des volkes ein complement des epos wird, während
die lyrik dazu nur geringes, die elegie nur hübsche aber triviale sprüche
beigesteuert hat. Homer und die tragiker sind Moses und die propheten
für Hellas. aber das wird schwerer begriffen, daſs der grund dieser er-
habenen stellung darin zu finden ist, daſs Aischylos die sage zum inhalte
seiner dichtungen macht, und dadurch für immer der tragödie ihren stoff
zuweist. ist es uns, die wir so sehr geneigt sind die persönlichkeit zu
überschätzen, schon befremdlich, daſs gerade die dichtung so mächtig
wird, in welcher der dichter hinter seinem werke verschwindet, ganz wie
im epos (doch da haben wir ja Shakespeare, der dasselbe lehren kann),
so sträubt sich vollends der moderne gegen eine macht, die freilich einem
papiernen saeculo ganz fremdartig ist, die macht der sage. der ratio-
nalismus kann sich’s nun mal nicht anders vorstellen, als daſs alles, was
doch gar nicht passirt ist und gar nicht passirt sein kann, sich einer
bloſs mal so ausgedacht haben muſs, und dann kann doch nur auf
diese person etwas ankommen und nicht auf ihre hirngespinnste. zum
mindesten erscheint ihm als eine des verständigen mannes unwürdige
schwachheit, wie der teufel sagt, abzuhängen von creaturen die wir
machten. die romantik aber, die freilich die tiefe empfindung von dem
besitzt, was der rationalismus am liebsten negirt und immer zerstört,
bleibt in der trauer und der sehnsucht befangen, daſs das paradies,
dessen schönheit sie fühlt, ein verlornes, und nur im traum noch für
uns zu betretendes sei. das ist nicht der rechte weg. die poesie und die

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 95. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/115>, abgerufen am 25.04.2024.