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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Was ist eine attische tragödie?
und er fand sie erst im suchen allmählich. wem so vorgearbeitet war,
der mochte leicht wenigstens im dialog die einheitlichkeit der diction und
des stiles erreichen, die dem gründer allerdings fehlt. aber in der fertig-
keit der formen liegt nicht bloss ein vorzug; die manier stellt sich nur
zu leicht ein, und hat es auch bei Sophokles und Euripides schon getan.
und in dem was das wesentliche war und ist, durch Aischylos zum wesent-
lichen in der tragödie geworden ist, konnten sie ihn nicht übertreffen,
und haben sie auch nicht bewusster das rechte getan, vielleicht das unrechte.

Was ist das wesentliche? das liegt in dem stoffe, den Aischylos der
tragödie gab, und in dem sinne, in welchem er seinen beruf fasste. es
geht nicht sowol den tragiker als den dichter überhaupt an. Aischylos
ward der erbe Homers. er selbst oder doch jemand, der ihn völlig ver-
stand, hat das ausgesprochen. seine dramen sind stücke von dem grossen
male Homers, d. h. Homer hat dem volke ein gewaltiges mal zubereitet,
und Aischylos setzt ihm davon einzelne gänge vor 59). die heldensage
wird der inhalt der poesie und der dichter führt ihre einzelnen stücke
seinem volke in demselben sinne vor, in dem es Homer getan hatte, zur
erbauung und erhebung. diese erkenntnis, ohne welche man dem attischen
drama nimmer gerecht werden kann, hat Platon völlig gehabt, nicht bloss,
weil er Homer den akros tragodias nennt (Theaet. 152e), sondern
weil deshalb seine polemik im Staate ganz unterschiedslos Homer und
Aischylos trifft. ja auch Isokrates (2, 48) behandelt die epiker, welche
die sagen von den kämpfen der helden erzählt haben, und die tragiker,
welche diese sagen den zuschauern vor augen geführt haben, als leute
gleichen schlages. Aristoteles hat hier nicht mehr attisch empfunden;

59) Athen. VIII 347[ - 1 Zeichen fehlt]. das apophthegma ist von Athenaeus in seine proso-
popoeie eingeflickt; diese ist albern, entscheidet aber gar nichts. die herkunft und
darum auch die echtheit ist nicht zu bestimmen: nur dass es gut ist, kann man
sagen. dass die Perser oder die Aitnai kein temakhos vom homerischen male sind,
ist so trivial, dass man sich scheut zu erinnern, dass die ausnahme eine regel nicht
entkräftet. es soll doch der versuch nicht mislungen sein, die tragödien nach dem
epischen cyclus zu ordnen, eben weil die überwiegende mehrzahl aus ihm stammt.
wenn jemand aber einwendet, dass dann ja jeder tragiker wol oder übel aus Homer
schöpfen musste, so ist das verzweifelt naiv: darin liegt ja gerade das charakte-
ristische, dass durch Aischylos die tragödie homerischen inhalt empfängt. und die-
selben leute erklären dann selbst, dass Aischylos nur aussage, seine wie jede andere
poesie wäre eigentlich nur ein teil der bewirtung, deren 'urheber' Homer ist, d. h.
der verfasser von Ilias und Odyssee, weil ohne diesen die griechische poesie nicht
entstanden wäre. 'urheber einer bewirtung', was ist das? Homer hat gekocht,
was Aischylos vorsetzt: wenn das nicht auf das stoffliche geht, d. h. auf das was
wirklich Homer und Aischylos gemein haben, worauf denn?

Was ist eine attische tragödie?
und er fand sie erst im suchen allmählich. wem so vorgearbeitet war,
der mochte leicht wenigstens im dialog die einheitlichkeit der diction und
des stiles erreichen, die dem gründer allerdings fehlt. aber in der fertig-
keit der formen liegt nicht bloſs ein vorzug; die manier stellt sich nur
zu leicht ein, und hat es auch bei Sophokles und Euripides schon getan.
und in dem was das wesentliche war und ist, durch Aischylos zum wesent-
lichen in der tragödie geworden ist, konnten sie ihn nicht übertreffen,
und haben sie auch nicht bewuſster das rechte getan, vielleicht das unrechte.

Was ist das wesentliche? das liegt in dem stoffe, den Aischylos der
tragödie gab, und in dem sinne, in welchem er seinen beruf faſste. es
geht nicht sowol den tragiker als den dichter überhaupt an. Aischylos
ward der erbe Homers. er selbst oder doch jemand, der ihn völlig ver-
stand, hat das ausgesprochen. seine dramen sind stücke von dem groſsen
male Homers, d. h. Homer hat dem volke ein gewaltiges mal zubereitet,
und Aischylos setzt ihm davon einzelne gänge vor 59). die heldensage
wird der inhalt der poesie und der dichter führt ihre einzelnen stücke
seinem volke in demselben sinne vor, in dem es Homer getan hatte, zur
erbauung und erhebung. diese erkenntnis, ohne welche man dem attischen
drama nimmer gerecht werden kann, hat Platon völlig gehabt, nicht bloſs,
weil er Homer den ἄκρος τραγῳδίας nennt (Theaet. 152e), sondern
weil deshalb seine polemik im Staate ganz unterschiedslos Homer und
Aischylos trifft. ja auch Isokrates (2, 48) behandelt die epiker, welche
die sagen von den kämpfen der helden erzählt haben, und die tragiker,
welche diese sagen den zuschauern vor augen geführt haben, als leute
gleichen schlages. Aristoteles hat hier nicht mehr attisch empfunden;

59) Athen. VIII 347[ – 1 Zeichen fehlt]. das apophthegma ist von Athenaeus in seine proso-
popoeie eingeflickt; diese ist albern, entscheidet aber gar nichts. die herkunft und
darum auch die echtheit ist nicht zu bestimmen: nur daſs es gut ist, kann man
sagen. daſs die Perser oder die Αῖτναι kein τέμαχος vom homerischen male sind,
ist so trivial, daſs man sich scheut zu erinnern, daſs die ausnahme eine regel nicht
entkräftet. es soll doch der versuch nicht mislungen sein, die tragödien nach dem
epischen cyclus zu ordnen, eben weil die überwiegende mehrzahl aus ihm stammt.
wenn jemand aber einwendet, daſs dann ja jeder tragiker wol oder übel aus Homer
schöpfen muſste, so ist das verzweifelt naiv: darin liegt ja gerade das charakte-
ristische, daſs durch Aischylos die tragödie homerischen inhalt empfängt. und die-
selben leute erklären dann selbst, daſs Aischylos nur aussage, seine wie jede andere
poesie wäre eigentlich nur ein teil der bewirtung, deren ‘urheber’ Homer ist, d. h.
der verfasser von Ilias und Odyssee, weil ohne diesen die griechische poesie nicht
entstanden wäre. ‘urheber einer bewirtung’, was ist das? Homer hat gekocht,
was Aischylos vorsetzt: wenn das nicht auf das stoffliche geht, d. h. auf das was
wirklich Homer und Aischylos gemein haben, worauf denn?
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[94/0114] Was ist eine attische tragödie? und er fand sie erst im suchen allmählich. wem so vorgearbeitet war, der mochte leicht wenigstens im dialog die einheitlichkeit der diction und des stiles erreichen, die dem gründer allerdings fehlt. aber in der fertig- keit der formen liegt nicht bloſs ein vorzug; die manier stellt sich nur zu leicht ein, und hat es auch bei Sophokles und Euripides schon getan. und in dem was das wesentliche war und ist, durch Aischylos zum wesent- lichen in der tragödie geworden ist, konnten sie ihn nicht übertreffen, und haben sie auch nicht bewuſster das rechte getan, vielleicht das unrechte. Was ist das wesentliche? das liegt in dem stoffe, den Aischylos der tragödie gab, und in dem sinne, in welchem er seinen beruf faſste. es geht nicht sowol den tragiker als den dichter überhaupt an. Aischylos ward der erbe Homers. er selbst oder doch jemand, der ihn völlig ver- stand, hat das ausgesprochen. seine dramen sind stücke von dem groſsen male Homers, d. h. Homer hat dem volke ein gewaltiges mal zubereitet, und Aischylos setzt ihm davon einzelne gänge vor 59). die heldensage wird der inhalt der poesie und der dichter führt ihre einzelnen stücke seinem volke in demselben sinne vor, in dem es Homer getan hatte, zur erbauung und erhebung. diese erkenntnis, ohne welche man dem attischen drama nimmer gerecht werden kann, hat Platon völlig gehabt, nicht bloſs, weil er Homer den ἄκρος τραγῳδίας nennt (Theaet. 152e), sondern weil deshalb seine polemik im Staate ganz unterschiedslos Homer und Aischylos trifft. ja auch Isokrates (2, 48) behandelt die epiker, welche die sagen von den kämpfen der helden erzählt haben, und die tragiker, welche diese sagen den zuschauern vor augen geführt haben, als leute gleichen schlages. Aristoteles hat hier nicht mehr attisch empfunden; 59) Athen. VIII 347_. das apophthegma ist von Athenaeus in seine proso- popoeie eingeflickt; diese ist albern, entscheidet aber gar nichts. die herkunft und darum auch die echtheit ist nicht zu bestimmen: nur daſs es gut ist, kann man sagen. daſs die Perser oder die Αῖτναι kein τέμαχος vom homerischen male sind, ist so trivial, daſs man sich scheut zu erinnern, daſs die ausnahme eine regel nicht entkräftet. es soll doch der versuch nicht mislungen sein, die tragödien nach dem epischen cyclus zu ordnen, eben weil die überwiegende mehrzahl aus ihm stammt. wenn jemand aber einwendet, daſs dann ja jeder tragiker wol oder übel aus Homer schöpfen muſste, so ist das verzweifelt naiv: darin liegt ja gerade das charakte- ristische, daſs durch Aischylos die tragödie homerischen inhalt empfängt. und die- selben leute erklären dann selbst, daſs Aischylos nur aussage, seine wie jede andere poesie wäre eigentlich nur ein teil der bewirtung, deren ‘urheber’ Homer ist, d. h. der verfasser von Ilias und Odyssee, weil ohne diesen die griechische poesie nicht entstanden wäre. ‘urheber einer bewirtung’, was ist das? Homer hat gekocht, was Aischylos vorsetzt: wenn das nicht auf das stoffliche geht, d. h. auf das was wirklich Homer und Aischylos gemein haben, worauf denn?

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 94. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/114>, abgerufen am 18.04.2024.