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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Was ist eine attische tragödie?
die adelsstaaten und demokratieen herunterkamen. durch die aufnahme
in die gewerbsmässige tanzlyrik hatte Arion den bockstanz den kreisen
des volkes entrückt; für Athen war das ganze fremd, denn die böcke
kannte man nicht, und die form des dorischen liedes war sprachlich und
metrisch dem ionischen überhaupt entfremdet. aber hier ward das spiel
volkstümlich, indem die peloponnesischen satyrn den attischen silenen
ihren namen gaben, aber ihr wesen an sie verloren. der wandel vollzog
sich leicht: lustig und unanständig waren sie beide, springen mag das
füllen wie der bock. und hier ward, wenn es nicht schon in Sikyon
und Phleius erreicht war, das satyrspiel fest an den dionysischen cult
geknüpft und erhielt so eine gesteigerte weihe. der Dionysosdienst war
bei den Ioniern seit alter zeit als ein ganz besonders heiliger empfunden.
er ward in feierlichen formen von der königin und ihrer adlichen um-
gebung begangen. er hatte mit seiner ekstase die ganze masse des weib-
lichen geschlechtes ergriffen. die zeit war jetzt einer neuen religiösen
stimmung hingegeben, welche vom himmel neue wunder, vom sterb-
lichen individuelle seelische regungen und stimmungen verlangte. und
ganz äusserlich verlangte man neue prächtige feste. Peisistratos wusste
seiner zeit genug zu tun und stiftete ein neues fest mitten im vollsten
frühling, um den vollmond des Elaphebolion, die grossen Dionysien: für
sie wurden auch die satyrtänze eingeführt. wie sie sich auch entwickelt
haben, den charakter des dionysischen frühlingsspieles haben sie nimmer
eingebüsst; auch damit hat trotz allen aesthetischen theorien die erklärung
immer zu rechnen.

Und nun tat Thespis im jahre 534 den nächsten schritt: denn name
und jahr darf geglaubt werden. er fügte den ersten schauspieler hinzu,
oder richtiger, er trat als sprecher zu seinem chore. dieser schritt konnte
nur in einer ionischen stadt geschehen, da aber lag es nahe genug, denn
der sprecher war als solcher vorhanden: der recitator des ionischen iambos.
man darf auch hier in dem schritte auf das mimische zu nicht zu grosses
sehen. denn wenn ein rhapsode eine archilochische fabel wie ereo tin
umin ainon, o Kerukide, akhnumene skutale, recitirte, so mochte er
allenfalls noch ziemlich so hinter seinem stoffe verschwinden, wie wenn
er ein homerisches gedicht vortrug. aber wenn er pater Aukamba
poion ephraso tode vortrug, so sprach er als Archilochos, und vollends
ou moi ta Gugeo tou polukhrusou melei waren worte des zimmer-
manns Charon, die eine vollkommene ethopoeie forderten: der schluss
musste ebenso drastisch wie in der horazischen nachbildung wirken, oder
vielmehr um so viel drastischer, als Archilochos an frischer keckheit

Was ist eine attische tragödie?
die adelsstaaten und demokratieen herunterkamen. durch die aufnahme
in die gewerbsmäſsige tanzlyrik hatte Arion den bockstanz den kreisen
des volkes entrückt; für Athen war das ganze fremd, denn die böcke
kannte man nicht, und die form des dorischen liedes war sprachlich und
metrisch dem ionischen überhaupt entfremdet. aber hier ward das spiel
volkstümlich, indem die peloponnesischen satyrn den attischen silenen
ihren namen gaben, aber ihr wesen an sie verloren. der wandel vollzog
sich leicht: lustig und unanständig waren sie beide, springen mag das
füllen wie der bock. und hier ward, wenn es nicht schon in Sikyon
und Phleius erreicht war, das satyrspiel fest an den dionysischen cult
geknüpft und erhielt so eine gesteigerte weihe. der Dionysosdienst war
bei den Ioniern seit alter zeit als ein ganz besonders heiliger empfunden.
er ward in feierlichen formen von der königin und ihrer adlichen um-
gebung begangen. er hatte mit seiner ekstase die ganze masse des weib-
lichen geschlechtes ergriffen. die zeit war jetzt einer neuen religiösen
stimmung hingegeben, welche vom himmel neue wunder, vom sterb-
lichen individuelle seelische regungen und stimmungen verlangte. und
ganz äuſserlich verlangte man neue prächtige feste. Peisistratos wuſste
seiner zeit genug zu tun und stiftete ein neues fest mitten im vollsten
frühling, um den vollmond des Elaphebolion, die groſsen Dionysien: für
sie wurden auch die satyrtänze eingeführt. wie sie sich auch entwickelt
haben, den charakter des dionysischen frühlingsspieles haben sie nimmer
eingebüſst; auch damit hat trotz allen aesthetischen theorien die erklärung
immer zu rechnen.

Und nun tat Thespis im jahre 534 den nächsten schritt: denn name
und jahr darf geglaubt werden. er fügte den ersten schauspieler hinzu,
oder richtiger, er trat als sprecher zu seinem chore. dieser schritt konnte
nur in einer ionischen stadt geschehen, da aber lag es nahe genug, denn
der sprecher war als solcher vorhanden: der recitator des ionischen iambos.
man darf auch hier in dem schritte auf das mimische zu nicht zu groſses
sehen. denn wenn ein rhapsode eine archilochische fabel wie ἐρέω τιν̕
ὑμὶν αἶνον, ὠ Κηρυκίδη, ἀχνυμένη σκυτάλη, recitirte, so mochte er
allenfalls noch ziemlich so hinter seinem stoffe verschwinden, wie wenn
er ein homerisches gedicht vortrug. aber wenn er πάτερ Αυκάμβα
ποῖον ἐφράσω τόδε vortrug, so sprach er als Archilochos, und vollends
οὔ μοι τὰ Γὑγεω τοῦ πολυχρύσου μέλει waren worte des zimmer-
manns Charon, die eine vollkommene ethopoeie forderten: der schluſs
muſste ebenso drastisch wie in der horazischen nachbildung wirken, oder
vielmehr um so viel drastischer, als Archilochos an frischer keckheit

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[86/0106] Was ist eine attische tragödie? die adelsstaaten und demokratieen herunterkamen. durch die aufnahme in die gewerbsmäſsige tanzlyrik hatte Arion den bockstanz den kreisen des volkes entrückt; für Athen war das ganze fremd, denn die böcke kannte man nicht, und die form des dorischen liedes war sprachlich und metrisch dem ionischen überhaupt entfremdet. aber hier ward das spiel volkstümlich, indem die peloponnesischen satyrn den attischen silenen ihren namen gaben, aber ihr wesen an sie verloren. der wandel vollzog sich leicht: lustig und unanständig waren sie beide, springen mag das füllen wie der bock. und hier ward, wenn es nicht schon in Sikyon und Phleius erreicht war, das satyrspiel fest an den dionysischen cult geknüpft und erhielt so eine gesteigerte weihe. der Dionysosdienst war bei den Ioniern seit alter zeit als ein ganz besonders heiliger empfunden. er ward in feierlichen formen von der königin und ihrer adlichen um- gebung begangen. er hatte mit seiner ekstase die ganze masse des weib- lichen geschlechtes ergriffen. die zeit war jetzt einer neuen religiösen stimmung hingegeben, welche vom himmel neue wunder, vom sterb- lichen individuelle seelische regungen und stimmungen verlangte. und ganz äuſserlich verlangte man neue prächtige feste. Peisistratos wuſste seiner zeit genug zu tun und stiftete ein neues fest mitten im vollsten frühling, um den vollmond des Elaphebolion, die groſsen Dionysien: für sie wurden auch die satyrtänze eingeführt. wie sie sich auch entwickelt haben, den charakter des dionysischen frühlingsspieles haben sie nimmer eingebüſst; auch damit hat trotz allen aesthetischen theorien die erklärung immer zu rechnen. Und nun tat Thespis im jahre 534 den nächsten schritt: denn name und jahr darf geglaubt werden. er fügte den ersten schauspieler hinzu, oder richtiger, er trat als sprecher zu seinem chore. dieser schritt konnte nur in einer ionischen stadt geschehen, da aber lag es nahe genug, denn der sprecher war als solcher vorhanden: der recitator des ionischen iambos. man darf auch hier in dem schritte auf das mimische zu nicht zu groſses sehen. denn wenn ein rhapsode eine archilochische fabel wie ἐρέω τιν̕ ὑμὶν αἶνον, ὠ Κηρυκίδη, ἀχνυμένη σκυτάλη, recitirte, so mochte er allenfalls noch ziemlich so hinter seinem stoffe verschwinden, wie wenn er ein homerisches gedicht vortrug. aber wenn er πάτερ Αυκάμβα ποῖον ἐφράσω τόδε vortrug, so sprach er als Archilochos, und vollends οὔ μοι τὰ Γὑγεω τοῦ πολυχρύσου μέλει waren worte des zimmer- manns Charon, die eine vollkommene ethopoeie forderten: der schluſs muſste ebenso drastisch wie in der horazischen nachbildung wirken, oder vielmehr um so viel drastischer, als Archilochos an frischer keckheit

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 86. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/106>, abgerufen am 29.03.2024.