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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Attische dithyramben. die böcke.
nichts, als dass die tragödie aus dem lyrischen chorgesang des 6. jahr-
hunderts stammt: dazu brauchen wir nicht erst das zeugnis des Aristo-
teles; oder es muss eine charakteristische form des dithyrambos gemeint
sein, welche sowol der pindarische dithyrambos als auch der attische
tragische chor gemeinsam voraussetzen. ja, wir können noch einen
schritt weiter gehen. an der chorlyrik, aller und jeder im 6. jahrhundert,
ist das charakteristische, dass der chor als solcher verschwindet, der dichter
hervortritt. im drama verschwindet der dichter, redet nicht nur durch
fremden mund, sondern auch aus fremder person heraus. das ist ein
gegensatz, und alle gleichheit der form hilft nicht darüber hinweg, dass
ein drama ohne mimesis dronton, ohne die vornahme einer maske
vor das antlitz des dichters eben kein drama ist. also wenn Aristoteles
eine vorstufe der tragödie suchte, musste er sie bei irgendwie mimetischer
poesie suchen. wir postuliren also, dass der dithyrambos, von welchem
er als der vorstufe der tragödie redet, ein mimischer gewesen ist. aber
wo den finden?

Aristoteles selbst hilft weiter: er sagt ja dass die tragödie aus demdie böcke.
satyrspiele stammt, und wenn er es nicht sagte, so müssten wir doch
dieses sonst rätselhafte und in den zeiten der blühenden tragödie ver-
kümmerte spiel herbeiziehen, zumal die tragodoi in ihrem namen die-
selbe auskunft geben, wie Aristoteles. sie sind bockssänger. und dass
unter den böcken satyrn verstanden sind, lehrt sicherer als die verdäch-
tige nachricht, dass die Dorer den bock saturos und tituros genannt
haben sollen 43), der eine aischyleische vers (Prometh. purkaeus 202),
in welchem der satyr des satyrspieles wirklich bock, tragos, angeredet
wird. darin also hat der fortschritt von dem chorgesange zur tragödie
bestanden, dass an die stelle gänzlich indifferenter sänger dämonische
wesen, böcke, getreten sind. aber wo und wie ist das geschehen?

43) saturos und tituros sind gleiche hypokoristische bildungen, aber der
stamm muss verschieden sein, da beide wörter dorisch sind. auch werden sie in
der besten behandlung der frage, durch Apollodor am schluss von Strab. X, ge-
sondert. saturos kann natürlich weder mit saino noch mit sairo noch mit satur
etwas zu tun haben; es wäre zu wünschen, dass es bock bedeutet hätte. von tituros
wird das behauptet, und hat es wol Theokrit geglaubt, als er einen ziegenhirten
so nannte. doch wird auch das nur metaphorisch sein. denn die tituroi dürften
sich nur in der ableitungssylbe von den titanes unterscheiden, und auch diese gelten
wie die Agrioi für obscoene daemonen, sind auch vorwiegend peloponnesisch. da
man nun Tituos, den erdensohn der der Leto gewalt antut, und den riesen Titakos
von ihnen nicht wird sondern wollen, so dürfte die urbedeutung die sein, welche
Bücheler (Wölfflins Archiv II 119. 508) in Titus aufgezeigt hat: es sind alles orthannai.
v. Wilamowitz I. 6

Attische dithyramben. die böcke.
nichts, als daſs die tragödie aus dem lyrischen chorgesang des 6. jahr-
hunderts stammt: dazu brauchen wir nicht erst das zeugnis des Aristo-
teles; oder es muſs eine charakteristische form des dithyrambos gemeint
sein, welche sowol der pindarische dithyrambos als auch der attische
tragische chor gemeinsam voraussetzen. ja, wir können noch einen
schritt weiter gehen. an der chorlyrik, aller und jeder im 6. jahrhundert,
ist das charakteristische, daſs der chor als solcher verschwindet, der dichter
hervortritt. im drama verschwindet der dichter, redet nicht nur durch
fremden mund, sondern auch aus fremder person heraus. das ist ein
gegensatz, und alle gleichheit der form hilft nicht darüber hinweg, daſs
ein drama ohne μίμησις δρώντων, ohne die vornahme einer maske
vor das antlitz des dichters eben kein δρᾱμα ist. also wenn Aristoteles
eine vorstufe der tragödie suchte, muſste er sie bei irgendwie mimetischer
poesie suchen. wir postuliren also, daſs der dithyrambos, von welchem
er als der vorstufe der tragödie redet, ein mimischer gewesen ist. aber
wo den finden?

Aristoteles selbst hilft weiter: er sagt ja daſs die tragödie aus demdie böcke.
satyrspiele stammt, und wenn er es nicht sagte, so müſsten wir doch
dieses sonst rätselhafte und in den zeiten der blühenden tragödie ver-
kümmerte spiel herbeiziehen, zumal die τραγῳδοί in ihrem namen die-
selbe auskunft geben, wie Aristoteles. sie sind bockssänger. und daſs
unter den böcken satyrn verstanden sind, lehrt sicherer als die verdäch-
tige nachricht, daſs die Dorer den bock σάτυρος und τίτυρος genannt
haben sollen 43), der eine aischyleische vers (Prometh. πυρκαεύς 202),
in welchem der satyr des satyrspieles wirklich bock, τράγος, angeredet
wird. darin also hat der fortschritt von dem chorgesange zur tragödie
bestanden, daſs an die stelle gänzlich indifferenter sänger dämonische
wesen, böcke, getreten sind. aber wo und wie ist das geschehen?

43) σάτυρος und τίτυρος sind gleiche hypokoristische bildungen, aber der
stamm muſs verschieden sein, da beide wörter dorisch sind. auch werden sie in
der besten behandlung der frage, durch Apollodor am schluſs von Strab. X, ge-
sondert. σάτυρος kann natürlich weder mit σαίνω noch mit σαίρω noch mit satur
etwas zu tun haben; es wäre zu wünschen, daſs es bock bedeutet hätte. von τίτυρος
wird das behauptet, und hat es wol Theokrit geglaubt, als er einen ziegenhirten
so nannte. doch wird auch das nur metaphorisch sein. denn die τίτυροι dürften
sich nur in der ableitungssylbe von den τιτᾶνες unterscheiden, und auch diese gelten
wie die Ἄγριοι für obscoene daemonen, sind auch vorwiegend peloponnesisch. da
man nun Τιτυός, den erdensohn der der Leto gewalt antut, und den riesen Τίτακος
von ihnen nicht wird sondern wollen, so dürfte die urbedeutung die sein, welche
Bücheler (Wölfflins Archiv II 119. 508) in Titus aufgezeigt hat: es sind alles ὀρϑάνναι.
v. Wilamowitz I. 6
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[81/0101] Attische dithyramben. die böcke. nichts, als daſs die tragödie aus dem lyrischen chorgesang des 6. jahr- hunderts stammt: dazu brauchen wir nicht erst das zeugnis des Aristo- teles; oder es muſs eine charakteristische form des dithyrambos gemeint sein, welche sowol der pindarische dithyrambos als auch der attische tragische chor gemeinsam voraussetzen. ja, wir können noch einen schritt weiter gehen. an der chorlyrik, aller und jeder im 6. jahrhundert, ist das charakteristische, daſs der chor als solcher verschwindet, der dichter hervortritt. im drama verschwindet der dichter, redet nicht nur durch fremden mund, sondern auch aus fremder person heraus. das ist ein gegensatz, und alle gleichheit der form hilft nicht darüber hinweg, daſs ein drama ohne μίμησις δρώντων, ohne die vornahme einer maske vor das antlitz des dichters eben kein δρᾱμα ist. also wenn Aristoteles eine vorstufe der tragödie suchte, muſste er sie bei irgendwie mimetischer poesie suchen. wir postuliren also, daſs der dithyrambos, von welchem er als der vorstufe der tragödie redet, ein mimischer gewesen ist. aber wo den finden? Aristoteles selbst hilft weiter: er sagt ja daſs die tragödie aus dem satyrspiele stammt, und wenn er es nicht sagte, so müſsten wir doch dieses sonst rätselhafte und in den zeiten der blühenden tragödie ver- kümmerte spiel herbeiziehen, zumal die τραγῳδοί in ihrem namen die- selbe auskunft geben, wie Aristoteles. sie sind bockssänger. und daſs unter den böcken satyrn verstanden sind, lehrt sicherer als die verdäch- tige nachricht, daſs die Dorer den bock σάτυρος und τίτυρος genannt haben sollen 43), der eine aischyleische vers (Prometh. πυρκαεύς 202), in welchem der satyr des satyrspieles wirklich bock, τράγος, angeredet wird. darin also hat der fortschritt von dem chorgesange zur tragödie bestanden, daſs an die stelle gänzlich indifferenter sänger dämonische wesen, böcke, getreten sind. aber wo und wie ist das geschehen? die böcke. 43) σάτυρος und τίτυρος sind gleiche hypokoristische bildungen, aber der stamm muſs verschieden sein, da beide wörter dorisch sind. auch werden sie in der besten behandlung der frage, durch Apollodor am schluſs von Strab. X, ge- sondert. σάτυρος kann natürlich weder mit σαίνω noch mit σαίρω noch mit satur etwas zu tun haben; es wäre zu wünschen, daſs es bock bedeutet hätte. von τίτυρος wird das behauptet, und hat es wol Theokrit geglaubt, als er einen ziegenhirten so nannte. doch wird auch das nur metaphorisch sein. denn die τίτυροι dürften sich nur in der ableitungssylbe von den τιτᾶνες unterscheiden, und auch diese gelten wie die Ἄγριοι für obscoene daemonen, sind auch vorwiegend peloponnesisch. da man nun Τιτυός, den erdensohn der der Leto gewalt antut, und den riesen Τίτακος von ihnen nicht wird sondern wollen, so dürfte die urbedeutung die sein, welche Bücheler (Wölfflins Archiv II 119. 508) in Titus aufgezeigt hat: es sind alles ὀρϑάνναι. v. Wilamowitz I. 6

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 81. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/101>, abgerufen am 25.04.2024.